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»Jede Schicht ist eine Wundertüte«
Frank Wieland kontrolliert seit 22 Jahren Fahrscheine in Zügen der Deutschen Bahn. Wer kein Ticket hat, muss 60 Euro zahlen. In seltenen Fällen drückt er ein Auge zu
Ein Interview auf einer Regionalzugstrecke Berlin-Brandenburg, nein, das gibt es bei der Deutschen Bahn nicht. Die Kollegen sollen bei der Arbeit nicht gestört werden. Stattdessen treffen wir uns im gläsernen Konzernhochhaus am Potsdamer Platz Nr. 2. Wir fahren in getrennten Aufzügen in den siebten Stock und sitzen mit Abstand im Büro, ehe wir für ein Foto hinüber zum Bahnhof gehen.
Herr Wieland, früher hat man Schaffner oder Fahrkartenkontrolleur gesagt, dann Zugbegleiter. Welche Berufsbezeichnung ist die richtige?
Frank Wieland (50) war früher Zugführer und damit für den reibungslosen und sicheren Ablauf der Fahrt zuständig. Heute ist er Kundenbetreuer im Nahverkehr der Deutschen Bahn rund um Berlin. Er kontrolliert die Tickets der Reisenden, hilft, wenn sie Fragen haben, und unterstützt den Lokführer, wenn technische Probleme auftreten. Im Interview erzählt er von seiner Lieblingsstrecke, vom Umgang mit Menschen ohne Fahrschein und vom Zugfahren unter Corona-Bedingungen.
Foto: Anita Wünschmann
Offiziell bin ich Kundenbetreuer im Nahverkehr; früher war ich Zugführer, was man nicht mit dem Lokführer verwechseln darf. Der Zugführer ist für den reibungslosen und sicheren Ablauf der Fahrt, nicht für das Fahren an sich zuständig.
Sie sind also nicht derjenige, der die Fahrkarten kontrolliert?
Doch, doch, das mache ich auch. Ich bin der Ansprechpartner für die Fahrgäste. Darüber hinaus unterstütze ich den Lokführer, wenn technische Probleme auftreten, sowie bei der ordnungsgemäßen und sicheren Abfahrt vom Bahnhof.
Seit wann machen Sie das?
Seit 32 Jahren, wobei ich die ersten zehn Jahre etwa als Zugführer tätig war.
Auf welchen Strecken betreuen Sie die Fahrgäste?
Hauptsächlich fahre ich mit dem RE 7 von Dessau bis Wünsdorf über Berlin. Dann auch mal mit dem RE 1 zwischen Magdeburg und Frankfurt (Oder) und seltener auf verschiedenen Regionalbahnlinien rund um Potsdam, etwa mit dem RB 20 von Oranienburg nach Potsdam über Hennigsdorf oder dem RB 21 nach Wustermark.
Haben Sie eine Lieblingstour?
Ja, das ist meine Heimatlinie, der RE 7 mit Haltepunkt Bad Belzig, meinem Wohnort.
Ist der RE 7 stark frequentiert?
Ja, das kann man wohl sagen! Vor allem im Berufsverkehr, früh zwischen 5 Uhr und 9 Uhr sowie nachmittags schon ab 14 Uhr - mit vollen Zügen bis 20 Uhr.
Wie viele Schichten fahren Sie?
Die Züge fahren im Stundentakt, und wir haben dadurch viele zeitversetzt beginnende und endende Schichten. Es ist also ein unregelmäßiges Schichtsystem. Ich fahre alle gern, etwas lieber die Spätschichten, aber ich möchte auch die anderen nicht missen. Der Wechsel ist für mich gut.
Ein sehr flexibles Leben?
Ja, ich habe den Beruf so gewählt und mag diesen Rhythmus. Natürlich gibt es auch belastende Momente, wenn die Dienstpläne, die ja immer aktualisiert werden, nicht so optimal sind. Man braucht auch die Pause von zwei Tagen. Schön sind auch drei, was gelegentlich möglich ist.
Was sagt die Familie?
Die kommt damit zurecht. Meine Frau hat den gleichen Beruf und arbeitet in Teilzeit.
Wie sind Sie zu Ihrem Berufswunsch gekommen?
Mein Großonkel war Zugführer und hat mich auf die Idee gebracht. Eisenbahnen fand ich immer schon toll, auch als Kind.
Ihre Ausbildung fand noch zu DDR-Zeiten statt?
Ja, sie begann 1986. Die praktische Ausbildung war in Bad Belzig, die theoretische an der Berufsschule in Jüterbog.
Die Technik hat sich sicherlich geändert. Und der Umgang mit den Fahrgästen?
Die Technik hat sich stark geändert. Der Umgang mit den Menschen auch. Allein schon dadurch, dass früher der Fokus mehr auf dem Fahrablauf lag und weniger auf den Fahrgästen. Wir mussten die Züge abfertigen, das heißt, wir waren für das Abfahrtssignal und die Türenkontrolle vor der Abfahrt zuständig. Ohne uns fuhr der Zug nicht. Wir mussten also mehr auf die betrieblichen Dinge achten. Heute mehr auf die »verkehrlichen«, wie es heißt. Das meint die Fahrgastbetreuung, Fahrkartenkontrolle und den Verkauf. Der Verkauf findet in den Zügen allerdings weniger statt, obwohl es die Fahrgäste wünschen. Aber der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg möchte, dass man bereits mit dem Fahrschein einsteigt.
Und Schwarzfahrer?
Ich rede nicht von »Schwarzfahrern«, sondern von Fahrgästen ohne gültigen Fahrausweis. Es kostet trotzdem 60 Euro.
Darf man auch mal ein Auge zudrücken?
Aber natürlich. Ich sage immer, es gibt keine Regel ohne Ausnahme. Es gibt genügend Fälle, wo der Fahrgast erst im Zug den Fahrschein kauft, weil manche Bahnhöfe keine Schalter oder Automaten haben.
Wenn Sie so lange auf den Linien tätig sind, kennt man schon einige Fahrgäste - gibt es dann gelegentlich ein »Hallo«?
Ja. Wenn man sich kennt, meint das allerdings ein eingeschränktes Kennen nur als Fahrgast. Mit diesen Gästen wechsle ich natürlich gern ein Wort. Das gehört dazu.
Und wenn um fünf Uhr einer schläft?
... kann ich ihn wecken.
Ist es nach 20 Uhr sehr einsam?
Das kann schon mal sehr ruhig sein.
Gefährlich auch?
Wenn Sie allein im Abteil sitzen, kann Ihnen ja keiner gefährlich werden! Manchmal fragen mich Einzelne, ob sie allein im Zug sind. Aber die Regios sind in der Regel nie ganz leer. Ich sage dann immer: »Gucken Sie sich doch mal um, wenn Sie lieber etwas Gesellschaft hätten; man kann durch den ganzen Zug laufen.« Wenn man aber erst gegen Mitternacht zurück nach Dessau kommt, kann es schon sein, dass nur noch zwei, drei Leute mitfahren. Wen das ängstigt, der sollte sich überlegen, ob er sich einer solchen Belastung aussetzten möchte.
Welche Mitfahrchance haben Obdachlose, die sich aufwärmen wollen?
Das gibt es, aber wir dürfen es nicht dulden. Die Beförderungsbedingungen verbieten es jedenfalls, dass »verschmutzte und übel riechende« Menschen mitfahren. Manche legen sich auf die Bank und beanspruchen drei Plätze.
Wie reagieren Sie?
Wir versuchen, dass der Herr oder die Dame am besten noch in Berlin aussteigt, wo sie leichter wieder irgendwo unterkommen. Schlimmstenfalls müssen wir die Polizei holen.
Was bereitet Ihnen Stress? Worauf stellen Sie sich ein, wenn Sie zur Schicht gehen?
Ich stelle mich auf nichts ein. Es kommt, wie es kommt. Fast jeder Tag birgt Überraschungen. Jede Schicht ist eine Wundertüte.
Das ist ja mal ein Satz! Durch technische Probleme - oder in Bezug auf die Menschen?
Auf jeden Fall durch die Menschen. Ansonsten weiß ich, wann es losgeht, wann ich Pause habe, dass irgendwann der Feierabend beginnt, auch wenn dazwischen eine Verspätung liegt. Bei Dienstbeginn gehe ich immer vom Idealfall aus.
Und wenn Reisende schlechte Laune haben, alles rappelvoll ist, Husten, Grippe - oder jetzt in Coronazeiten?
Es kann schon stressen, wenn andere Probleme an einem abarbeiten wollen, aber meistens tangiert es mich nicht so sehr. Ich will Probleme lösen und versuche, alles so zu klären, dass der Fahrgast zufrieden ist. Wenn es so voll ist, dass auch alle Stehplätze in den Gängen besetzt sind, ist das keine schöne Situation, dann muss ich auch mal außen herumgehen beim Halt und später weiterkontrollieren. Oftmals können aber nicht mehr Wagen angehängt werden, weil die Bahnsteige zu kurz sind.
Wie funktioniert das Masketragen?
Es funktioniert relativ gut. Manche Fahrgäste muss man erinnern, obwohl die ja sehen könnten, dass rundherum die Mitreisenden Masken tragen. Die kramen dann eine aus der Tasche. Es gibt auch andere Zeitgenossen, die besitzen keine. Das sind die Maskenverweigerer. Die binden sich dann lustlos irgendeinen Schal so locker vor die Nase, dass es kaum nützt.
Wo hängt Ihre Uniform?
Die hängt in einem Spind auf Arbeit. Man kann die Uniform, bei uns heißt sie übrigens »Unternehmensbekleidung«, auch zu Hause haben. In Bad Belzig kann man nach der Arbeit duschen - warum sollte ich mich danach dann noch einmal umziehen? Das wäre Quatsch!
Und der Heimweg?
Ich könnte die vier Kilometer bis nach Hause auch laufen, aber ich nehme meistens das Moped, manchmal das Fahrrad, selten das Auto. Im Winter wird das Moped eingemottet und steht in der Garage.Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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