»Noch kann ich meine Miete zahlen«

In Argentinien schrumpft durch die Corona-Pandemie die Mittelschicht, und die Zahl der Armen steigt rasant

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 3 Min.

Marielena Munir gehört zu den neuen Armen in Argentinien. »Sechs Monate habe ich durchgehalten«, sagt die 35-Jährige. Im August ließ sie zum letzten Mal die Rollläden ihrer kleinen Modeboutique in Buenos Aires herunter. Jetzt hängt ein großes Schild »Zu vermieten« an ihrem ehemaligen Laden. Wie auf allen Schildern, die entlang der Straße in jeder dritten Ladentür hängen.

»Ich möchte lieber zehn Prozent mehr Arme als 100 000 Tote durch das Coronavirus«, hatte Präsident Alberto Fernández im April gesagt, als er die einen Monat zuvor verhängten Quarantänemaßnahmen verteidigte. Lange hatte die Regierung damit die Kurve der Infizierten-Zahlen flach halten können. Doch seit sie einige Lockerungen zulassen musste, pendelte sich die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen um die 10 000-Marke ein. Mit gegenwärtig über 800 000 registrierten Infizierten liegt Argentinien in der Länderliste inzwischen auf dem achten Platz. 21 500 Tote wurden bisher gezählt, aber auch rund 650 000 Genesene. Noch hat das Gesundheitssystem die Lage im Griff, abgesehen von einigen lokalen Überlastungen und Engpässen.

In den Monaten März, April und Mai war das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 20 Prozent eingebrochen. Vier Millionen Arbeitsplätze gingen im ersten Halbjahr verloren, meldete die nationale Statistikbehörde Indec. Betroffen sind vor allem Beschäftige in den Dienstleistungsbranchen wie dem Tourismus, der Gastronomie oder eben dem Einzelhandel.

»Als ich im Juni wieder öffnen durfte, hatten die Leute kein Geld mehr für neue Kleider«, resümiert Marielena Munir. Hilfe vom Staat? Den zinslosen Kredit für Selbstständige hat sie in Anspruch genommen. »Zum ersten Mal in meinem Leben war ich auf staatliche Unterstützung angewiesen.« Jetzt hat Munir nicht nur kein Einkommen mehr, sie hat auch Schulden. »Die Kreditkarte ist ausgereizt, und die Strom- und Wasserversorger warten darauf, dass ich die Rechnungen bezahle.«

Argentinien gilt als eines der wenigen Länder Lateinamerikas mit einer breiten Mittelklasse. Doch die schrumpft immer weiter zusammen. Nur noch 32 Prozent der 45 Millionen Argentinier*innen werden dazu gezählt. Vor einem Jahr waren es 45 Prozent. 64 Prozent der Bevölkerung werden inzwischen der Unterklasse zugeschlagen. 2019 waren es 50 Prozent. Da ist es nur ein schwacher Trost, dass auch die Superreichen Verluste erleiden mussten. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist um einen Punkt auf vier Prozent gefallen.

Die Armutsgrenze wird nach einem Basiswarenkorb für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern berechnet. In der ersten Jahreshälfte lag der Wert des Korbs bei umgerechnet 460 Euro. Dagegen liegt das monatliche Durchschnittseinkommen der armen Haushalte bei nur rund 270 Euro. Für viele Familien hat sich der Abstand zur Armutsgrenze vergrößert. Innerhalb der einzelnen Klassen ist das Abrutschen in vollem Gang. Von den 18,5 Millionen Armen leben inzwischen 4,7 Millionen Argentinier*innen in extremer Armut. Knapp drei Prozent mehr als zu Beginn des Jahres. Nur die finanziellen Hilfsmaßnahmen der Regierung haben bisher verhindert, dass weitere 1,2 Millionen Menschen in die Armut abrutschten.

Auch Benjamín Ruffo zählt sich nicht mehr zur Mittelschicht. Lange finanzierte er mit einem Job als Fitnesstrainer sein Studium. »Erst wurde die Uni geschlossen, dann musste das Fitnesscenter dichtmachen«, erzählt der 27-Jährige. Zwar gebe es virtuelle Seminare, aber eine andere Einkommensquelle finde er nicht. »Noch kann ich meine Miete zahlen«, sagt er. Doch bald muss er zu den Eltern zurück. »Meiner Schwester geht es ähnlich. Es sieht so aus, dass wir bald alle wieder unter einem Dach sind«, so Ruffo. Und nach dem Studium? »Viele meiner Kommiliton*innen reden ganz offen über eine Auswanderung nach Europa oder in die USA.«

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