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  • Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main

Nicht die Natur ist schuld

Sascha Staničić und René Arnsburg untersuchen den Zusammenhang von Kapitalismus und Pandemie

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Coronavirus oder, wie es exakt heißt, Sars-CoV-2, ist nicht der erste Krankheitserreger, der die Welt in Angst und Schrecken versetzt. In den Jahren 1918 bis 1920 war es die Spanische Grippe, die ihren Ausgangspunkt in einem Betrieb für Massentierhaltung in den USA hatte und 50 Millionen Menschen das Leben kostete. Es folgten Asiatische Grippe, Hongkong-Grippe, HIV, Sars, Vogel- und Schweinegrippe. Jetzt Corona.

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Sascha Staničić/ René Arnsburg: Pandemische Zeiten. Corona, Kapitalismus, Krise und was wir dagegen tun können.
Manifest, 299 S., br. 14,90 €.

Aus der Wissenschaft, so schreiben Lucie Dussle und Hans Neumann in diesem aufschlussreichen Kompendium, kamen seit Langem Warnungen vor dem erneuten Ausbruch einer verheerenden Erkrankungswelle. Wie wir heute wissen, wurden sie in den Wind geschlagen, die Vorbereitungen blieben aus. Als sich das Coronavirus am Anfang dieses Jahres explosionsartig über Ländergrenzen hinweg ausbreitete, gab es keinen Plan - und es dauerte ewig, ehe Masken beschafft werden konnten und Kliniken sowie Gesundheitsdienste in die Gänge kamen.

Schlimmer noch: Das kapitalistische Wirtschaftssystem hatte dem unsichtbaren Feind, der vom Tierreich auf den Menschen übersprang, seit mehr als 100 Jahren den Weg geebnet; durch Monokulturen, Massenzucht und Massenhaltung, die Vertreibung von Wildtieren aus ihrem natürlichen Lebensraum, den Wildtierhandel, die Vernichtung ganzer Arten. Steigt aber die Anzahl einzelner Arten mit dem jeweils gleichen Erreger, nimmt deren Konzentration so zu, dass sie zur Gefahr für die in der Nachbarschaft lebenden Menschen werden. So berichten Dussle und Neumann, wie durch die Zerstörung der Regenwälder Fledertiere und Ratten in urbane Lebensräume flüchten, Speicher und Schweineställe bevölkern und im Lichtermeer der Städte Gefallen an den Insekten finden. Aber »sie beherbergen eine große Anzahl an Krankheitserregern; unter anderem 3200 verschiedene Coronaviren. Da sie ein ausgezeichnetes Immunsystem haben, werden sie nicht krank«. Doch die Erreger passen sich an andere Tiere und Menschen an, denen sie nahe kommen.

Ein anderes Beispiel sind die Brandrodungen in Malaysia, denen Obstbäume zum Opfer fielen, von deren Früchten sich Flughunde ernähren. Sie fielen in Schweineställe ein, um Futter zu finden, und übertrugen dabei das in ihrem Speichel enthaltenen Nipah-Virus auf die Schweine. Erst wurden die Schweine krank, dann die Menschen. Bis heute ist das Virus in Indien und Bangladesh unterwegs. Egal, wie Krankheiten übertragen werden, nicht die Natur ist schuld, sondern der Umgang mit der Natur, sagen Autorin und Autor.

Doch die Entwicklung der Wirtschaftssysteme und deren globale Verpflichtung ist nur ein Aspekt der Beiträge in diesem Buch. Eine Ärztin und Personalrätin eines großen Klinikums befasst sich mit den Zuständen in der Pflege in Krankenhäusern, und ihr Fazit lautet: Solange die Privatisierung in der Gesundheitsversorgung fortschreitet, geht es nur um Profite, nicht mehr um den Menschen. Sie plädiert für eine Verstaatlichung von Krankenhäusern, Pflege und Pharmaindustrie und weiß auch schon, woher das Geld dafür kommt: aus den Gewinnspannen der Pharmaindustrie, die im Jahr 2018 bei einem Umsatz von 41 Milliarden Euro immerhin bei 20 bis 30 Prozent lagen, der Abschaffung der Fallpauschalen und einer Corona-Abgabe für Reiche.

»Pandemische Zeiten« ging im Mai 2020 in Druck. Man möchte meinen, in fast fünf Monaten hätte sich so viel ereignen müssen, dass wir es hier mit einer regelrecht veralteten Textsammlung zu tun haben. Doch das Gegenteil ist der Fall: Unser Wissen über die Wirkungsweise von Sars-CoV-2 vergrößert sich langsamer als gedacht, die Politik stützt mit Milliarden Euro sogenannte systemrelevante Konzerne, Krankenhäuser jagen weiterhin dem Geld hinterher. Linkspartei und Gewerkschaften, so Herausgeber Staničić, suchen eher den Schulterschluss mit den Regierenden, statt ihnen den Kampf anzusagen. Wobei das vielleicht ein Punkt ist, in den seit Mai doch etwas Bewegung gekommen ist, denn es gibt Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. Dass jedoch am Ende die Gehälter in der Pflege signifikant erhöht werden, muss immer noch stark angezweifelt werden. Vielleicht können wir ja im Herbst mal wieder auf dem Balkon klatschen. Oder auf einer der vielen Demonstrationen, die im Einführungstext des Buches im Eifer des Gefechts schon mal zu »Demonstration*innen« gegendert wurden. Was für ein Wort!

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