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Wie die anderen sein
Annie Ernaux schreibt in »Die Scham« über den Makel der sozialen Herkunft und vom Plebejertum in der französischen Provinz
Im Jahr 1952 ist Annie Ernaux zwölf Jahre alt. An einem Junisonntag beim Essen streiten sich ihre Eltern, die Situation eskaliert, der Vater will die Mutter mit der Axt erschlagen. Er beruhigt sich schließlich, aber es bleibt ein Trauma bei dem jungen Mädchen zurück, das sie in dem Memoir »Die Scham« erzählerisch bearbeitet. Psychologische Ursachenforschung scheidet für sie von vornherein aus. Die ist viel zu naheliegend und greift auch zu kurz: »eine dominante Mutter, ein Vater, der seine Unterlegenheit durch eine tödliche Geste zertrümmern will etc.« Geschenkt.
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Annie Ernaux: Die Scham. A. d. Franz. v. Sonja Finck. Suhrkamp, 111 S., geb., 18 €.
Ernaux geht anders vor, sie bettet den Beinahe-Gewaltakt in den sozialen Kontext - beschreibt die Topografie der Kleinstadt, in der sich die gesellschaftliche Hierarchie manifestiert (je weiter man sich vom Stadtzentrum entfernt, desto geringer die Stellung), skizziert das kleinbürgerlich-proletarische Herkunftsmilieu, aus dem sich ihr Vater nie wirklich befreien kann, den streng durchgetakteten Alltag mit seinen tradierten Floskeln und Ritualen, die lädierte Sprache der Unbildung, das »Patois«, den hohen Anpassungsdruck in diesem Soziotop, in dem jeder jeden beobachtet und das Kollektiv sich auf diese Weise selbst diszipliniert.
Am interessantesten sind ihre nüchternen, schonungslosen Einlassungen zum Wertekodex »bei uns«: »Die Kinder zu züchtigen und zu bestrafen, weil man glaubte, sie seien von Natur aus böse, gehörte zu den Pflichten guter Eltern«, schreibt Ernaux. »Oft beendete eine Mutter oder ein Vater die Erzählung über ein Vergehen und die darauffolgende Strafe mit den Worten: ›Fast hatte ich das Kind totgeschlagen‹, voller Stolz: darüber, die verdienten Prügel ausgeteilt zu haben, in ihrer Wut aber nicht dem Gewaltexzess verfallen zu sein, auch wenn das angesichts der bösen Tat nur verständlich gewesen wäre. Aus Angst, mich totzuschlagen, weigerte sich mein Vater stets, die Hand gegen mich zu erheben, ja sogar, mich auszuschimpfen, das überließ er meiner Mutter.«
Diese mentale Verhärtung, ohne die eine so normierte und streng reglementierte Existenz vielleicht gar nicht zu ertragen wäre, findet sich in vielen Bereichen. »Man lobte Tüchtigkeit und Fleiß, Eigenschaften, mit denen man Verfehlungen wenn schon nicht sühnen, so doch zumindest relativieren konnte, er trinkt, aber er ist nicht faul. Gesundheit galt als Charakterstärke, sie ist kränklich war nicht nur Ausdruck von Mitleid, sondern auch ein Vorwurf. Krank zu sein, war auf diffuse Weise mit einem Makel behaftet, als hätte sich derjenige unachtsam gegenüber dem Schicksal verhalten. Grundsätzlich gestand man anderen nur widerstrebend zu, ernsthaft und berechtigterweise krank zu sein, man verdächtigte sie stets, sich anzustellen.«
Ernaux liefert trotz der Kürze ein aufschlussreiches Bild nicht nur ihrer Lebenswirklichkeit, sondern eins des Plebejertums in der französischen Provinz insgesamt. Sie kann und will den Gewaltausbruch des Vaters damit nicht erklären, sie beschreibt nur das zugehörige Soziotop und überlässt es dem Leser selbst, Kausalzusammenhänge herzustellen oder auch nicht. Die »nicht greifbare Schwere« und das »Gefühl der Enge« in ihrem Milieu, die Ernaux im Prozess des Erinnerns noch einmal erlebt, vielleicht jetzt erstmals in ihrer vollen Dimension, weil sie als zwölfjähriges Mädchen noch keine Vergleichsparameter kennt, teilen sich dem Leser jedoch unmittelbar mit. Und wenn man als Arbeiterkind in einem kleinen niedersächsischen Dorf nahe der Grenze zur DDR aufgewachsen ist, dann findet man hier die Rahmenbedingungen der eigenen Adoleszenz auf eine so bedrückende Weise gespiegelt, dass einem die Lektüre nicht mehr so leichtfällt. »Wie die anderen sein, war das allgemeine Ziel, das zu erreichende Ideal. Originalität galt als exzentrisch, sogar als Zeichen, dass man nicht alle Tassen im Schrank hatte.«
Für das junge Mädchen Annie wird die traumatische »Szene« zu einem Augenöffner. Erst jetzt bemerkt sie, was sie von den anderen Schülern der katholischen Privatschule unterscheidet. Sie ist eben nicht Teil der bürgerlichen Wohlanständigkeit, sie gehört zum Plebs vom Stadtrand. Ist der Blick erst einmal geschärft, fallen ihr immer mehr einschüchternde, ihr Selbstwertgefühl bedrohende Defizite und Differenzmerkmale auf.
Während sie in ihrem zuvor erschienenen, komplementären, Vaterbuch »Der Platz« vor allem ihre Scham über den Verrat an der eigenen Klasse thematisiert, geht sie hier noch einmal zurück an den Anfang ihrer Klassenscham, als die soziale Herkunft ihr zunächst mal einen ziemlichen Packen Minderwertigkeitskomplexe aufbürdet. Sie schenkt ihr aber auch ein Lebensthema, an dem sie sich nun schriftstellerisch abarbeiten kann. Und eine adäquate, maßstabsgetreue Form dazu. »Mir scheint, dass ich immer danach strebe, in der sachlichen Sprache von damals zu schreiben«, räumt sie ein. »Ich werde niemals den Zauber von Metaphern erleben, den Glanz des Stils.«
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