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»Gewalt kann erzählt werden«
Die Künstlerin Cemile Sahin über staatlichen Terror, die Bedeutung von Bildern und die Suche nach einer neuen Darstellung von Zwang und Macht
Ich habe mich auf das neue Buch von Ihnen wirklich gefreut, denn Ihr Debüt »Taxi« hat mich sehr beeindruckt. Für »Alle Hunde sterben« haben Sie dasselbe Thema, nämlich staatliche Gewalt, gewählt. Warum?
Das ist ein so ein großes und komplexes Thema, dass man es nicht mit einem künstlerischen Werk schnell abhandeln kann. Ich beschäftige mich mit gesellschaftlichen und politischen Themen und versuche, mich ihnen durch unterschiedliche künstlerische Arbeiten anzunähern.
Die Künstlerin Cemile Sahin wurde 1990 in Wiesbaden geboren. Sie hat in London und Berlin studiert und ist ars-viva-Preisträgerin für Bildende Kunst. Ihr Debütroman »Taxi« erschien 2019 im Korbinian Verlag, ihr zweites Buch »Alle Hunde sterben« nun im Aufbau Verlag. Parallel eröffnete die Ausstellung »Studio Berlin« im Berghain in Kooperation mit der Boros Foundation, in der unter anderen auch Cemile Sahin ihre Werke zeigt.
Für ihr Schreiben wurde sie mit der Alfred-Döblin-Medaille ausgezeichnet. Mit Cemile Sahin sprach Nelli Tügel über autoritäre Gesellschaften, das Erzählen gegen die Ohmacht und darüber, wie Gewalt durch Sprache und Bilder sichtbar gemacht werden kann.
Anlass des Gespräches ist die Neuerscheinung eines Buches, welche Rolle spielt da Ihre Kunst?
Ich bin Künstlerin und trenne die Bücher nicht von meiner Bildenden Kunst. Schreiben ist für mich nicht wegzudenken von Film oder meinen Videoarbeiten. Sprache und Schreiben sind ein wichtiges Medium innerhalb vom Film, das man für die Entwicklung von Bildern braucht. Mit dem Thema Gewalt beschäftige ich mich schon länger und vor allem damit, ob es überhaupt möglich ist, Gewalt, die erlebt wurde, im Nachhinein zu rekonstruieren oder darzustellen. Das zweite Buch ist ein Versuch, über die Darstellbarkeit von Gewalt zu sprechen.
Zu welchen Schlüssen sind Sie diesbezüglich in Ihrer bisherigen Arbeit gelangt? Wie kann über Gewalt erzählt werden? Und wie vermeidet man das Verbleiben in der Ohnmacht?
Über Gewalt kann erzählt werden, wenn man anfängt, darüber zu erzählen - ohne die Gewalt zu verfremden. Aber es geht noch um mehr: Staatliche Gewalt ist immer verankert in den Gesellschaften, in denen sie entsteht und sie wird eben auch in autoritären Gesellschaften, durch Leugnung und durch Geschichtsrevisionismus, zu einem Zustand, der etwas anderes erzählen soll. Ich glaube, ein wichtiger Schritt gegen die Ohnmacht ist, zu versuchen, die Gewalt immer wieder sichtbar zu machen. Wenn man seit langer Zeit in einer bestimmten Realität lebt, gibt es auch irgendwann den Punkt, an dem man sich, aus sehr vielen, sehr verschiedenen Gründen, an gewisse Zustände »gewöhnt«, was nicht bedeutet, das man sie akzeptiert - staatliche Gewalt sollte niemals etwas sein, an das man sich gewöhnen kann. Ich finde es daher notwendig, nicht nur über Gewalt zu schreiben, sondern auch über die Gesellschaften, in die Menschen hineingeboren werden oder in die sie hineingeraten sind. Denn staatliche Gewalt kann nur mit den Gesellschaften gedacht werden, in denen sie funktioniert.
Ihre beiden Bücher sind besonders - nicht nur sprachlich, sondern auch, weil sie Merkmale aufweisen, die es im klassischen Roman nicht gibt. Dazu gehört, dass Sie die Texte in Episoden statt Kapiteln anordnen. Während diese Form der Episode bei »Taxi« allerdings wesentlicher Teil der Geschichte ist, da eine der Hauptfiguren dort ein Seriendrehbuch für ihr Leben schreibt, ist es in »Alle Hunde sterben« nicht auf den ersten Blick klar, welche Funktion die »Episode« hat. Warum dennoch wieder diese Form?
Ich schreibe die Bücher, um hinterher Videoarbeiten daraus zu machen. Mich interessiert Sprache als konzeptionelles Mittel, zum Beispiel welche Sprachästhetik, welche Formen für welche Themen geeignet sind oder wie man über Sprache funktionierende Bilder konstruieren kann. Für mich steht also die Frage im Raum, wie ich das, was ich da aufschreibe, hinterher in Bilder umwandeln kann. Bei »Alle Hunde sterben« hat mich nicht nur beschäftigt, wie man über die Sprache Gewalt darstellen kann, sondern auch, woran die Erzählung der Gewalt gekoppelt ist: Lässt sich die Gewalt, die nach ihrer Tat beschrieben wird, über den Ort rekonstruieren, an dem sie passiert ist oder über die Tageszeit, zu der sie stattgefunden hat. Dennoch manifestiert sich Gewalt jedes Mal anders. Was bleibt ist ihre Gewalttätigkeit. Die Episoden sind dieses Mal nicht, wie in »Taxi«, Teil der Erzählung, sondern sie beschreiben einen rohen Zustand des Geschehens, zu dem man immer wieder zurückkehrt.
Jeder der neun Episoden des Buches, die jeweils aus einer anderen Perspektive unterschiedliche Ausformungen von Gewalt thematisieren, ist neben dem immer gleichen Foto eines Parkhauses auch eine Tageszeit vorangestellt.
Jede Episode beschreibt einen anderen Aspekt der staatlichen Gewalt und jede Episode versucht, durch eine andere Geschichte, durch eine andere Perspektive an die Gewalt heranzukommen. Jede Episode also ist ein neuer Versuch, Gewalt zu beschreiben.
Während es diese präzisen Uhrzeitangaben gibt, verzichten Sie erneut - wie schon in »Taxi« - weitgehend auf konkrete Hinweise darauf, in welchem Jahr und auch an welchen Orten etwas geschieht. Genauso wird auch mit Figuren verfahren. Sie haben eine Funktion im Gewaltsystem des Staates, sind Polizisten oder Soldaten, aber es werden nie Parteinamen oder Politikernamen genannt. Nicht einmal das Wort »Kurden« findet man in Ihrem Text - weshalb?
Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat - egal wie sehr sich türkische Nationalist*innen bis heute dagegen wehren. Die Türkei war auch schon immer ein Vielvölkerstaat. Mit meinem Buch ging es mir aber nicht darum, über die Unterdrückung der Kurd*innen und deren Auslöschung innerhalb der Türkei zu schreiben. Die gibt und gab es schon immer, darüber müssen wir nicht diskutieren. Es ging mir mehr um Gewaltsysteme, vor allem wie autoritäre Staaten - und die Türkei ist ein autoritärer Staat - Gewalt anwenden und benutzen, etwa über Nationalismus oder Militarismus. Das sind auch zwei Formen von Gewalt, die tief verankert sind in der türkischen Gesellschaft. Natürlich schreibe ich auch aus einer kurdischen Perspektive, aber die verschiedenen Modelle der Staatsgewalt innerhalb der Türkei betreffen nicht nur Kurd*innen, sondern auch viele andere Menschen und Minderheiten.
Ich finde als Leserin diesen Effekt bemerkenswert. Es wird klar, dass das Problem der staatlichen Gewalt erstens in gewissem Maße universell ist und zweitens, bezogen auf die Türkei, kein Phänomen der letzten Jahre ist, das mit der jetzigen türkischen Regierung wie ein böser Fluch über das Land kam. Die Gewalt ist schon seit Existenz der Türkischen Republik in dieses Land eingeschrieben.
Das freut mich!
Ich frage mich dennoch, ob das auch noch funktioniert für einen gewissermaßen ahnungslosen Leser, weil dieses Weglassen konkreter Daten ja auch Ahnungen und Assoziationen provoziert. Aber was passiert, wenn man diese Ahnungen gar nicht hat?
Nein, das funktioniert dann sicherlich nicht. Allerdings ist es auch nicht mein Anspruch, politische Konflikte literarisch nachzuerzählen. Das funktioniert sowieso nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich bin Künstlerin und keine Wissenschaftlerin oder Historikerin. Dem Leser kann ich durch meine künstlerischen Arbeiten immer nur einen Teil mitgeben und eben nur aus einer künstlerischen Position heraus. Wenn aber jemand das Buch liest und danach beispielsweise anfängt, sich tiefer mit dem Thema zu beschäftigen, dann ist das auch etwas Gutes.
Obgleich wir, wie gesagt, wenig wissen über konkrete Orte, Daten oder Figuren, ist »Alle Hunde sterben« dennoch - anders als »Taxi« - zumindest klar in der Türkei verortet. Stellenweise werden auch immer mal wieder andere geografische Hinweise, etwa auf den Südosten des Landes, eingestreut.
Der Stil, den ich bei »Taxi« angewandt habe, war eine bestimmte Art, um mit staatlicher Gewalt umzugehen, aber ich wollte nicht nochmal ein Buch wie »Taxi« schreiben. Für das neue Buch habe ich einen anderen Ansatz ausgearbeitet. Bei »Taxi« blieb das Thema der Gewalt stark in der Fiktion verhaftet, »Alle Hunde sterben« ist zwar auch Fiktion, aber der Rahmen, den ich dieses Mal gesetzt habe, ermöglicht anders und auch konkreter über Gewalt zu schreiben.
Können Sie beschreiben, wie Sie arbeiten und wie Sie Ideen und Stoffe entwickeln?
Ich habe ein Studio in Berlin-Kreuzberg, da bin ich fast jeden Tag. Ich bin Frühaufsteherin, morgens ist immer alles besser, nachmittags arbeiten kann ich nicht so gut. Ich bin sehr viel im Internet, lese sehr viel, recherchiere, sammele Bilder zusammen und entwickele daraus meine Videoinstallationen. Im Studio schreibe ich auch. Aber das mache ich erst, wenn ich weiß, worüber ich schreiben möchte. Ich setze mich nicht einfach an den Tisch und lege irgendwie los, bis etwas Gutes kommt. Ich entwickle die Geschichte wie einen Film, bevor ich sie chronologisch aufschreibe.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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