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Erlernen statt isolieren
In Sachen Coronavirus geht es um langfristige Strategien, nicht um Lockdowns.
Wenn man manchen Politikern zuhört, hat man den Eindruck, sie könnten den nächsten flächendeckenden Lockdown gar nicht erwarten. »Wir sind einem Lockdown näher, als viele glauben«, sagte in dieser Woche etwa Bayers Ministerpräsident Markus Söder (CSU) im Landtag. Selbst Berlins Landesvater Michael Müller (SPD) will dies nicht mehr ausschließen.
Unklar bleibt, was damit konkret gemeint ist. Sollen pauschal Läden und öffentliche Einrichtungen bis hin zu Schulen und Kitas geschlossen werden? Oder gar Leute generell zuhause gehalten werden? Vor einem halben Jahr, als das Coronavirus noch die große Unbekannte war, gab es Gründe für unverhältnismäßige Maßnahmen nach dem Motto: alle 83 Millionen isolieren, nicht nur einige Zehntausend Infizierte samt ihren engen Kontakten. Doch inzwischen weiß man deutlich mehr: Wie die aktuellen Fallzahlen zeigen, werden anders als vor einem Jahr sehr viel mehr Covid-19-Erkrankungen mit mildem Verlauf identifiziert, während die Zahl der schweren Fälle trotz ebenfalls starken Anstiegs deutlich niedriger ist als im Frühjahr. Auch über die Übertragungswege weiß man einiges: Der öffentliche Nahverkehr spiele bei den Infektionen eine geringe Rolle, wie der Präsident des Robert-Koch-Institutes, Lothar Wieler, in dieser Woche sagte. Auch Ausbrüche in Schulen seien nicht sehr häufig. Nach Übernachtungen in Hotels seien Ansteckungen ebenfalls eher selten.
In Deutschland werden mehr und mehr Corona-Patienten in Intensivstationen in Krankenhäusern behandelt. Nach Zahlen des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) vom Freitag werden derzeit 1121 Patienten mit Covid-19 intensivmedizinisch behandelt. Vor einer Woche waren es noch 690, vor zwei Wochen 510 und vor einem Monat 293 gewesen. 478 Corona-Patienten werden derzeit beatmet. Demnach sind aktuell 21 736 Intensivbetten belegt. 7784 sind frei. Das sind 873 freie Betten weniger als noch vor einer Woche.
Darüber hinaus steht eine »Notfallreserve« von 12 717 Intensivbetten bereit, die innerhalb von sieben Tagen verfügbar wären. Laut DIVI-Präsident Uwe Janssens ist eine Überlastung der intensivmedizinischen Kapazitäten derzeit nicht zu erwarten. Es gebe ausreichend Betten und medizinisches Gerät. Engpass werde – wie in jedem Winter – das fehlende Pflegepersonal. dpa/nd
Die wirklich gefährlichen Superspreader-Events sind Familienfeiern und große Hochzeiten. Die neuen Obergrenzen hier werden von allen Experten begrüßt. »Zielgerichtet und verhältnismäßig« nennt sie etwa der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg. Allerdings müsse man gerade jungen Menschen auch Angebote - Veranstaltungen mit besonderen Hygienekonzepten - machen, »sonst geht das in die Illegalität«. Virologen sind sich einig, dass die wirksamste Maßnahme die AHA-L-Regel ist, also Abstand, Händewaschen, Alltagsmaske und Lüften. Hinzu kommt noch die Kontaktverfolgung.
Aber wäre ein Lockdown präventiv wirksam? Dabei muss man sich über die Konsequenzen im Klaren sein: Die kalte Jahreszeit mit höherem Infektionsgeschehen hat erst begonnen, daher müsste ein Lockdown fünf, sechs Monate andauern. Die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und auch psychischen Wirkungen möchte man sich nicht ausmalen. Oder man hebt ihn je nach Infektionsgeschehen schnell wieder auf, dann käme es zu einem Ping-Pong-Spiel zwischen Phasen mit und ohne Lockdown.
Und nicht nur das: Das Procedere müsste sich jedes Jahr wiederholen. Ein zentraler Fakt zu Sars-CoV-2 spielt in der Diskussion der nur kurzfristig denkenden Politiker kaum eine Rolle: »Dieses Virus kann nicht mehr aus dem Menschen ausgetrieben werden, und wir müssen anfangen, mit ihm zu leben«, wie es der Virologe Hendrik Streeck von der Uni Bonn ausdrückt. Auch Impfstoffe werden daran nichts ändern. Erst einmal ist unklar, wann sie kommen - derzeitige Hoffnung: Mitte 2021 -, in welcher Menge sie dann zur Verfügung stehen und wie wirksam sie sind. Und auch dann wird Covid-19 nicht einfach verschwinden, wie die Influenza lehrt.
Es braucht also langfristige Strategien. An denen mangelt es bisher: eine Ampel etwa, die sich nach den Zahlen schwerer Covid-19-Fälle richtet und besonders auf den Schutz von Risikogruppen abzielt. Regelungen zu Homeoffice oder eine Strategie zur Vermeidung von Sammelunterkünften stehen ebenfalls aus. Entscheidend ist aber letztlich etwas Anderes: breite Akzeptanz und Eigenverantwortlichkeit in der Bevölkerung, was auch Hardliner wie Söder einräumen. Dies gelingt nur mit wenigen, klaren und nachvollziehbaren Regeln. Diese müssten dann aber auch, so Schmidt-Chanasit, »umgesetzt und kontrolliert werden«. Es geht letztlich um einen gesellschaftlichen Lernprozess, selbstständig das Richtige zu tun, von der Anwendung der AHA-L-Regeln bis hin zur Selbstquarantäne, wenn Gesundheitsämter überlastet sind. Kurz gesagt: erlernen statt isolieren.
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