Eine Frage der Abwägung

Die Juristin Kerstin Geppert über Herausforderungen bisheriger und zukünftiger Paritätsgesetze

Dieses Jahr erklärte sowohl das Thüringer als auch das Brandenburger Verfassungsgericht die jeweiligen Paritätsgesetze für nichtig. Sie beeinträchtigen das »Recht der politischen Parteien auf Betätigungsfreiheit, Programmfreiheit und Chancengleichheit«. Doch das Grundgesetz schreibt auch die Förderung der Gleichberechtigung vor. Stehen Parteifreiheit und Gleichberechtigungsgebot in einem Konflikt?

Grundsätzlich können alle in der Verfassung verbürgten Rechte in Konflikt geraten. Kein Recht gilt absolut, abgesehen von der Menschenwürde. Es ist Aufgabe von Jurist*innen, in einem konkreten Fall kollidierende Rechte in Ausgleich zu bringen. Dabei stellen sich unter anderem die Fragen, wie stark welches Recht betroffen ist und wie schwer welches Recht wiegt. Es ist immer eine Frage der Abwägung. Und in Brandenburg und Thüringen wurde der Parteienfreiheit der Vorzug gegeben.

Kerstin Geppert
Kerstin Geppert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und Mitglied im Deutschen Juristinnenbund. Aktuell promoviert sie im Verfassungs- und Parteienrecht.

Ein anderes Verfassungsgericht könnte also das Gleichstellungsgebot höher werten?

Ich würde es für möglich halten. Der Inhalt von Verfassungsnormen ist immer auch eine Frage der Auslegung und der Verfassungsinterpretation. Eine absolut objektive Auslegung des Rechts ist in meinen Augen eine Mär. Bei der Rechtsauslegung und -anwendung fließt immer mit ein, wie und wo die Richter*innen sozialisiert wurden und welche Erfahrungen sie gemacht haben. Natürlich versucht man, das durch eine juristische Ausbildung weitestgehend zurückzudrängen, trotzdem lässt es sich nicht verhindern. Es ist wohl kein Zufall, dass in Thüringen gerade die beiden Richterinnen ein Sondervotum geschrieben haben. Auch im aktuellen rechtswissenschaftlichen Diskurs sprechen sich überwiegend Juristen gegen Parität aus, und zwar teilweise sehr vehement, während Juristinnen eher für die Verfassungskonformität argumentieren. Es ist gut möglich, dass ein anderes Verfassungsgericht anders entscheiden würde und – wenn man auch den gesellschaftlichen Wandel mit in den Blick nimmt, sogar die gleichen Verfassungsgerichte in der Zukunft anders entscheiden würden.

Müsste es in der Tat nicht legitim sein, sich als reine Männerpartei aufzustellen?

In den Niederlanden wurde einer reinen Männerpartei wegen Verstoß gegen Art. 7 der UN-Frauenrechtskonvention gerichtlich die Parteienfinanzierung entzogen. In Thüringen hat der Verfassungsgerichtshof hingegen ausgeführt, dass es möglich sein muss, sich als reine Frauen- oder Männerparteien aufzustellen. Es gibt tatsächlich keinen grundsätzlichen Anspruch darauf, in eine bestimmte Partei aufgenommen zu werden. Allerdings sind laut Parteiengesetz generelle Aufnahmesperren verboten. Man könnte also argumentieren, die Hälfte der Bevölkerung auszuschließen, sei eine solch verbotene Aufnahmesperre. Auf der anderen Seite ist die Programmfreiheit der Parteien ein hohes Gut. Damit will ich nicht sagen, dass sie wichtiger ist als Gleichberechtigung, aber sie ist ein elementarer Grundpfeiler unserer Demokratie. Der Staat darf sich nicht einmischen in das, was Parteien inhaltlich vertreten wollen. Bei der Debatte um Paritätsgesetze geht es allerdings darum, dass Frauen und Männer nicht die gleichen Chancen haben, in ein Parlament hinein zu kommen. Das ist natürlich von keiner Programmfreiheit der Parteien gedeckt.

Chancengleichheit fängt ja bereits bei der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und politischer Beteiligung an. Würde ein Paritätsgesetz das überhaupt beeinflussen?

Das lässt sich schön bei den unterschiedlichen Parteien in Deutschland beobachten: Grüne, Linke und SPD haben selbstgewählte Quoten und müssen deswegen schauen, dass auch Frauen Zeit für Parteiarbeit finden. Wo das nicht erforderlich ist, da kümmert man sich auch nicht darum, Prozesse anders zu gestalten und um Frauen zu werben. Natürlich kann man sagen, Parteien müssen nur einige Strukturen ändern und dann kommen Frauen von alleine – oder man setzt eben Anreize.

Sollte der Gesetzgeber also aktiv eingreifen, weil Parteien freiwillig selten was ändern?

In meinen Augen ja. Es ist allerdings eine Frage der Ausgestaltung. Die beiden bislang verabschiedeten Paritätsgesetze haben das Wahlrecht geändert. In meiner Forschung suche ich nach Möglichkeiten, im Parteienrecht anzusetzen: Wie kann man Parteien Anreize setzen und sie motivieren, Frauen die gleichen Chancen einzuräumen?

In Frankreich wird die Quotierung über die Parteienfinanzierung erreicht: Parteien müssen ihre Listenplätze paritätisch besetzen, ansonsten droht eine Kürzung der staatlichen Parteifinanzierung oder die Nichtzulassung zur Wahl. Wäre das eine Möglichkeit?

Das wird zumindest immer wieder diskutiert. In Thüringen und Brandenburg war Rechtsfolge des Paritätsgesetzes, dass Parteien ohne paritätische Liste nicht an einer Wahl teilnehmen konnten. Das ist tatsächlich heftig für eine Partei. Wenn nun aber Parteien ohne quotierte Listen weniger Geld von der staatlichen Parteienfinanzierung bekommen oder umgekehrt Parteien mit gut quotierten Listen mehr Geld erhalten, dann wären das mögliche, weniger einschneidende Rechtsfolgen als der Ausschluss von Wahlen.
Ein weiterer Anknüpfungspunkt sind die Parteistrukturen: Parteigremien und Vorstände sind einflussreiche Zirkel, wenn es um die Aufstellung neuer Kandidat*innen geht. Quotierte Gremien könnten also sehr zielführend sein. Außerdem kann man in einer Partei nur dann Karriere machen, wenn man sich innerparteilich bewährt hat – und auch das passiert in solchen Gremien und Vorständen.

In Frankreich wurde für das Paritätsgesetz allerdings die Verfassung geändert. Braucht es das in Deutschland auch?

Als dort das erste Paritätsgesetz verabschiedet wurde, was dann vom Conseil Constitutionnel wieder kassiert wurde, gab es in der französischen Verfassung kein Gleichberechtigungsgebot oder irgendetwas, was mit unserem Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz vergleichbar gewesen wäre. Da hatte das französische Verfassungsgericht nichts, mit was es die Beeinträchtigungen von Parteirechten oder Wahlgrundsätze abwägen konnte und deswegen musste das Gesetz kassiert werden. Dann hat dort die Diskussion über eine Art Gleichberechtigungsgebot angefangen. Interessanterweise hat man sich aber nur auf einen Kompromiss einigen können und nur den gleichen Zugang zu Wahlämtern und -mandaten festgeschrieben. Eigentlich ein Minus zu dem was wir haben. Wir haben ein sehr starkes Gleichberechtigungsgebot, ich würde daher sagen, dass es für ein deutsches Paritätsgesetz keine Verfassungsänderung braucht.

Halten Sie ein Paritätsgesetz auf Bundesebene für wahrscheinlich?

Das ist ein Blick in die Glaskugel. Aber auf Bundesebene ist die Ausgangssituation nicht grundlegend anders als in den Bundesländern. Es kommt eher auf die konkrete Ausgestaltung des Gesetzes an. Es gibt gewisse Vorgaben der Verfassung, wie die Programmfreiheit, die berücksichtigt werden müssen. Wenn man sich die Realität anschaut, sehe ich das auf Bundesebene allerdings momentan nicht kommen.

Kritiker*innen von Paritätsgesetzen fürchten, dass auf eine Frauenquote weitere Quotierungen folgen könnten, etwa nach Alter oder Ost und West. Ist das realistisch?

Wenn man sich die Schwierigkeiten bei der Einführung einer Frauenquote anschaut, scheinen weitere Quotierungen eher unwahrscheinlich. Aber wenn man die Befürchtung mal ernst nimmt: Ich finde, dass diese Kritik einen wichtigen Punkt verkennt. Nämlich, dass es bei diesen Quoten darum geht, strukturelle Diskriminierung zu beseitigen. Und diese strukturelle Diskriminierung stellen wir vor allem entlang der Geschlechterlinie, also bei Frauen fest. Es geht nicht darum, im Parlament ein exaktes Spiegelbild der Gesellschaft herzustellen, sondern darum, dass alle Menschen in Deutschland die gleichen Chancen haben, in ein Parlament gewählt zu werden. Und diese Chancen herzustellen ist in meinen Augen das Ziel von Frauenquoten.

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