Der Preis der Makellosigkeit
Vor 40 Jahren erschufen Steely Dan »Gaucho«, das perfekte Popalbum - und gingen darüber kaputt
Manchmal erzählen ein paar Zahlen eine ganze Geschichte. Für »Gaucho« produzierten 42 Profimusiker 60 000 Minuten Töne. Davon landeten 99,94 Prozent in der Tonne; das fertige Album ist knappe 38 Minuten kurz. Es erschien 1980.
Man kann sich vorstellen, wie es im Tonstudio zugegangen sein muss. Mark Knopfler, der sich gerade mit »Sultans of swing« in den Gitarrenolymp gespielt hatte, musste wie ein Musikschüler stundenlang Soli wiederholen - Anklang fanden mickrige 40 Sekunden. Schlagzeuger Jeff Porcaro (Toto) berichtete hinterher: »Sie brachten jeden dazu, so zu spielen, als hinge sein Leben davon ab.«
»Sie«, das waren der Sänger und Keyboarder Donald Fagen sowie der Gitarrist und Bassist Walter Becker. Wir schreiben die 70er, ein Jahrzehnt, in dem Begriffe wie »Rockstar« und »Exzess« Synonyme waren - die Hälfte des in den USA verfügbaren Kokains ging allein durch die Nasen von Fleetwood Mac und den Eagles. Doch die folgenschwerste Abhängigkeit leisteten sich Steely Dan: Sie waren süchtig nach Vollkommenheit.
Wie bei jeder Sucht wurde die Dosis stetig erhöht. Zunächst hatten die beiden alle Bandmitglieder gefeuert; seit dem Album »Katy Lied« (1975) setzte man ausschließlich auf Sessionmusiker, natürlich nur die Crème de la Crème. Und mit jedem Album wurden die Ansprüche höher. Bereits auf »Aja« (1977) hatte ihr filigraner Yacht-Rock, ihr angejazzter Sophisti-Pop einen Verfeinerungsgrad erreicht, der eigentlich nicht zu übertreffen war.
Fagen und Becker versuchten es dennoch. Wenn die Musiker an ihre Grenzen stießen, musste die Technik nachhelfen. Das ging so weit, dass man eigens für »Gaucho« einen Drumcomputer entwickeln ließ, der nach heutiger Kaufkraft 600 000 Dollar kostete - die Perfektion hatte ihren Preis. Auch psychisch. Vor allem Becker hielt dem Druck immer weniger stand, zumal juristische Scharmützel mit gleich zwei Plattenfirmen den Rest an Energie raubten. Er griff zur Spritze; aus dem Perfektions-Junkie wurde ein Heroinabhängiger. Und dann schlug Murphy richtig zu: Erst wurde Becker von einem Taxi angefahren und saß über Monate hinweg im Rollstuhl. Wenig später starb seine Freundin an einer Überdosis.
Zu den privaten Schicksalsschlägen gesellte sich ein musikalischer: Den fertig produzierten Song »The second arrangement« löschte ein schussliger Studiomitarbeiter - für Fagen und Becker eine Katastrophe. Ausgelaugt von jahrelangen Studiomarathons verzichteten sie darauf, das Lied noch einmal neu einzuspielen. Sie kapitulierten.
Stattdessen griffen sie auf einen mehr oder weniger fertigen Song aus den Studioaufnahmen für »Aja« zurück: »Third world man«. Und der erwies sich nicht nur musikalisch als Glücksgriff. Denn die unglaubliche Trägheit, Schwermut und Resignation, die dieses Lied ausstrahlt, spiegelt exakt die Verfasstheit von Fagen und Becker im Jahr 1980 wider. Aus den beiden waren seelische Wracks geworden.
Deshalb war es nur konsequent, dass mit »Third world man« das perfekteste der perfekten Steely-Dan-Alben ausklang. Nach diesem Song ahnte man: Steely Dan sind am Ende. Und so war es dann auch. Bis zum nächsten Studioalbum, »Two Against Nature«, sollten 20 Jahre vergehen.
Steely Dan: »Gaucho« (Geffen Records)
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