Vor dem Einstieg verloren

In der Coronapandemie fließt an Grundschulen viel Kraft in den Aufbau digitaler Lernprogramme - doch die fehlt dann anderswo

Es war Anfang November, die Coronazahlen stiegen rasant und die Gefahr, dass einzelne Klassen über Nacht wieder zu Hause lernen müssen, rückte näher, da diskutierten Elternvertreter einer Berliner Grundschule, wie gut ihre Schule auf das digitale Lernen vorbereitet ist. Zu Beginn des Schuljahres hatte es bei Elternversammlungen eine Kurzvorstellung des Lernraums Berlin gegeben, der digitalen Lernplattform, die der Senat den Schulen kostenlos zur Verfügung stellt. Seither liefen im Wochentakt Aufforderungen über die Klassenverteiler, sich dort anzumelden, erzählen Eltern. Offenkundig ist es schon eine Herausforderung, überhaupt alle Kinder an Bord zu kriegen. Und auch wer sich anmelden will, stößt auf Probleme, etwa wenn eine Mutter für zwei Accounts ihrer beiden Grundschulkinder nicht dieselbe E-Mail-Adresse benutzen kann. Kleinigkeiten, klar, nur Eltern und Schulen fühlen sich mit vielen dieser Kleinigkeiten gerade allein gelassen.

Überall in der Republik besuchen Lehrer, Eltern und Schüler in diesen Wochen einen Crashkurs in digitalem Lernen. Die Unterschiede zwischen Schulen und einzelnen Lehrern sind groß. Nach dem gerade veröffentlichten Bildungsbericht der EU lag die Digitalausstattung der deutschen Schulen 2017/2018 weit unter dem EU-Durchschnitt, besonders dramatisch sei die Lage an den Grundschulen. Dies in wenigen Monaten nachzuholen, mitten in einer Pandemie - ein Kraftakt.

Auch wenn der Wechsel zu mehr Fernunterricht weiterhin umstritten ist - Homeschooling ist längst wieder Realität. Mitte November befanden sich knapp 200 000 Schüler in Quarantäne, teilten die Kultusminister mit. Nach dem ersten Lockdown beklagten Eltern und Schüler, von manchen Lehrern lediglich Aufgaben zugeschickt bekommen zu haben und ab dann seien sie auf sich allein gestellt gewesen. Ein halbes Jahr später soll das anders laufen. Doch die Voraussetzungen haben sich nur wenig verbessert. Zumindest dort, wo die Ausstattung bislang schlecht war. Wie an den Grundschulen eben.

Zwar wurde in allen Bundesländern einiges auf den Weg gebracht, Bedarfsermittlungen und Vergabeverfahren laufen. Die Zahl der Anmeldungen im Lernraum Berlin hat sich seit Beginn der Coronakrise deutlich erhöht. Aber zum Teil warten Schulen noch immer auf die Auslieferung von Laptops und Tablets für bedürftige Kinder, die sie im Frühjahr aus dem Sofortprogramm des Bundes bestellt haben. Auch Arbeitsrechner für Lehrer und Dienst-E-Mails fehlen. Mancherorts sind Schulleiter noch nicht einmal dazu gekommen, die Abfrage auszuwerten, welche technische Ausstattung in Familien vorhanden ist.

In Berlin soll jede Schule einen IT-Betreuer haben. Der soll pädagogische Konzepte entwickeln, wie digitale Tools sinnvoll zum Einsatz kommen können. Und aktuell etwa die Frage beantworten, wofür der Lernraum eigentlich genutzt werden soll - um lediglich Arbeitsunterlagen und Wochenpläne zu verteilen oder geht es um mehr? Im Kern bietet die Plattform eine Vielzahl an Möglichkeiten. Die erschließen sich nur nicht auf den ersten Blick, schon gar nicht Menschen, für die Computer vor allem Unterhaltungsgeräte sind. Doch in der Praxis kämpfen IT-Betreuer an den Schulen vor allem damit, das System technisch zum Laufen zu bringen und versuchen, sich selbst einzuarbeiten. In Oberschulen gibt es immerhin Informatiklehrer, die fachlich qualifiziert sind. An Grundschulen kann man nur hoffen, dass irgendjemand im Lehrkörper technikaffin genug ist und den Job als IT-Betreuer übernimmt - zusätzlich. Eine Stunde Unterrichtsverpflichtung wird dafür erlassen. Der Rest ist Hobby. Die Einführung von digitalen Modulen hängt somit stark an individuellem Engagement in der Freizeit. Einer, der an einer Universität mit Moodle arbeitet - die Software, auf der der Lernraum basiert -, wundert sich in einem Elternforum denn auch, dass er in der Uni über Wochen Einführungen in die Nutzung des Programms bekommen hat, während in den Schulen davon ausgegangen wird, dass Schulleitungen, Lehrer, Schüler und Eltern sich quasi nebenbei reinfuchsen. Und bei all dem gibt es auch noch Probleme mit der Datensicherheit: Die Berliner Datenschutzbeauftragte jedenfalls hat bis heute kein grünes Licht gegeben für den Lernraum.

Anderswo in der Hauptstadt sind die Erfahrungen positiver. Nach einem Update laufe das System stabiler, berichtet eine Gymnasiastin aus Pankow, die ganze Schule sei jetzt einheitlich beim Lernraum. Dadurch befindet sich nun das Material sämtlicher Kurse an einer Stelle, statt verteilt in Dutzenden E-Mails. Das schätzt sie besonders. Lehrer, die schon vor Corona mit der Plattform gearbeitet haben, nutzen das Potenzial: Da seien die Semesterthemen klar untergliedert. Bei anderen hingegen sind die Lernräume völlig unsortiert. »Da findet man nichts.« Und ausgerechnet Videokonferenzen, die sie im Fernunterricht in Zukunft regelmäßig machen wollen - eine Lehre aus dem ersten Lockdown, um besser in Kontakt zu bleiben und niemanden zu verlieren -, ausgerechnet die blieben im Lernraum ständig hängen.

Die Berliner sind mit diesen Erfahrungen nicht allein. Ilka Hoffmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kennt ähnliche Geschichten von überall in Deutschland. »Schulen, die schon vor Corona digitale Tools benutzt haben oder die offenen Unterricht praktizieren, kommen damit besser klar als Schulen, die sich erst seit der Corona-Pandemie damit beschäftigen oder die einen eher lehrerzentrierten Unterricht verfolgen«, sagt Hoffmann. Zudem sei es immer dort einfacher, wo Kinder von ihren Eltern unterstützt werden können, wo sie ein eigenes Zimmer und Rechner haben. Wo man sich schon um die Teilnahme am Präsenzunterricht kümmern muss, »gibt es natürlich größere Herausforderungen«.

Der Aufbau neuer Kompetenzen bindet Kraft und Ressourcen. Die fehlen aber womöglich, um Schüler und Schülerinnen gut durch die Krise zu bringen. Hoffmann, die selbst viele Jahre als Lehrerin gearbeitet hat, bringt es auf eine einfache Formel: »Digitales Lernen ist nur in einem stimmigen Gesamtkonzept sinnvoll.« Sie ist dafür, den Einsatz digitaler Medien zu verstärken. »Das erweitert unsere Möglichkeiten.« Aber das könne gerade bei kleinen Kindern kein Ersatz für direkten Kontakt sein. Fernunterricht, betont die GEW-Frau, muss deshalb auch nicht digital sein. Wir sollten nicht so tun, als wenn Unterricht, der nicht in der Schule stattfinden kann, nur mit Tablet zu bewältigen sei. »Es gibt immer noch Stift und Papier. Und die Zehnerüberschreitung lässt sich auch mit Kieselsteinen lernen.«

Man könnte auch sagen: Statt sich in Moodles und Doodles aufzureiben, wäre Familien in Coronazeiten schon viel geholfen, wenn die Lehrerin in Quarantäne telefonisch erreichbar wäre. Und eine datenschutzkonforme Videoplattform findet sich sicher auch.

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