Die Toten sind nicht einfach tot

Gabriele und Gregor Gysi über ihren Vater Klaus Gysi, Freigeist und Kommunist

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Statt von Familien sprach man bei den Gysis von »Häusern«. Ein Hauch von Aristokratie wehte. Zum Hause Gysi zählte aber - gut proletarisch - auch »Schätzi«, das Kindermädchen, das dem Geschwisterpaar Gabriele und Gregor die häufig beruflich abwesenden Eltern ersetzte. Über die Familien von Klaus Gysi zu reden, würde ohnehin unübersichtlich werden, denn diese gründete er leichthin und verließ sie dann wieder ebenso leichthin - sieben Kinder aus drei Ehen.

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Gabriele und Gregor Gysi: Unser Vater. Ein Gespräch.
Unter Mitarbeit von Hans-Dieter Schütt.
Aufbau, 155 S., geb., 16 €.

Dennoch hebt Hans-Dieter Schütt seinen Einleitungsessay zum Gespräch, das Gabriele und Gregor Gysi über ihren Vater Klaus Gysi führen, mit dem Satz an: »Es geht im wörtlichen Sinne familiär zu.« Das ist wohl so, denn die beiden gehören nicht zu einem »Haus«, sondern zu einer Familie. Große Schwester und kleiner (zwei Jahre jüngerer) Bruder - so etwas prägt ein Verhältnis für immer. Gregor Gysi, der nach Anfangsjahren der heftigsten Anfeindungen als Vorsitzender der PDS nun den Status des Prominenten durchaus genießt, sucht offenbar die Nähe zur großen Schwester. Vielleicht auch deshalb, weil in ihrer Zuwendung immer auch Zurechtweisung steckt?

Die in der Gefahr des medialen Schwebens stehende Existenz des Bruders erfährt hier den familiären Bodenkontakt. Eine Art Heimholung. Wohin? Darüber wollen sie reden, erst bei Keksen, dann bei Gulasch, wie Schütt den verregneten Nachmittag in Johannisthal erinnert. Im Elternhaus, in das Gabriele Gysi nun wieder eingezogen ist, jedoch - wie sie an anderer Stelle versichert - nach einem gründlichen Umbau.

Wer war Klaus Gysi? Das hängt auch von der Perspektive des Betrachters ab. Für Gabriele und Gregor Gysi - trotz ihres Verlassenwerdens mit zehn und zwölf Jahren - eine positive Lebenskoordinate, die für sie wichtig bleibt. Für ihren Halbbruder Andreas Goldstein, der über Klaus Gysi den Film »Der Funktionär« drehte, ist die Erinnerung sehr viel vager. Der Vater war abwesend, er existiert in seinem Leben bis heute nur als ein dunkler Schatten. Er sah in dessen Weggehen, der nächsten Frau hinterher, nur Verrat. Selbst sein Tod löste in ihm keinerlei Reaktionen aus.

Hier also wird um die Kontur einer Biografie gerungen. Der Funktionär, der Klaus Gysi auf unangenehme Weise sein konnte (wie vor allem Künstler und Autoren erinnern), blieb eben auch ein Intellektueller. Macht es das irgendwie besser? Aber um »besser« oder »schlechter« geht es nun gerade nicht, sondern um die Tragödie eines Kommunisten im 20. Jahrhundert. Oder sollte man eher von Tragikomödie sprechen? Darum kreist das von Hans-Dieter Schütt moderierte Gespräch der Geschwister.

Wer war Klaus Gysi? Geboren als Arztsohn in Berlin, tritt er mit 16 Jahren in den Kommunistischen Jugendverband ein, nachdem er (wie er berichtet) aus dem Fenster einen Demonstranten sieht, der von Polizisten getötet wird. Unter politischer Führung der Sozialdemokratie! Wegen seines jüdischen Familienhintergrunds (die Gysis fühlten sich nie als Juden, Religion spielte keine Rolle bei ihnen) muss Klaus Gysi 1935 die Berliner Universität verlassen, emigriert nach Cambridge. 1939 findet man ihn als Mitglied der Studentenleitung der KPD in Frankreich. Per Parteiauftrag wird er 1940 - ohne Papiere - zur illegalen politischen Arbeit nach Deutschland geschickt; wie durch ein Wunder überlebt er. 1945 zählt er zu den neuen Kadern im Osten, zu seinen vielen Funktionen gehört die des Chefredakteurs der Zeitschrift »Aufbau« (bis 1948). Als Mitglied der SED macht er schnell Karriere - aber die stoppt 1951 plötzlich, als man Westemigranten unter Spionageverdacht stellt. Er erhält »Funktionsverbot«, ist arbeitslos. Schließlich arbeitet er im Schulbuchverlag Volk und Wissen.

Und nun passiert etwas Merkwürdiges. Der in die zweite, fast schon dritte Reihe abgeschobene Gysi erhält zum jeweils denkbar falschen Zeitpunkt seine Bewährungschancen.1956, nach der Verurteilung Walter Jankas, Verleger des Aufbau-Verlages, zu einer langjährigen Zuchthausstrafe (er hatte die Entstalinisierung nach dem XX. KPdSU-Parteitag fälschlicherweise beim Wort genommen), stellt man Klaus Gysi an die Verlagsspitze. Autoren wie Stephan Hermlin oder Stefan Heym sehen in ihm jemanden, auf den man nicht bauen kann, einen virtuosen Dogmatiker. Nach dem »Kahlschlagplenum« der SED im Dezember 1965 und der Entlassung Hans Bentziens als Kulturmister ist es wiederum Klaus Gysi, den man als seinen Nachfolger holt. Ein Funktionär, der die Eiszeit mit Charme verwalten soll.

Erich Honecker, der Ulbrichts Reformen sabotiert und Gysi dafür benutzt hatte, entledigt sich seiner 1973 als Kulturminister, weil er sich ein liberales Image geben will. Gysi wird Botschafter in Italien (samt Vatikan) - es gilt, die Früchte von Ulbrichts Anerkennungspolitik zu ernten. DDR-fern unter Römern blüht Gysi auf. Den Kardinälen gilt er schnell als verwandter Geist. Als Papst Benedikt, der frühere Kardinal Ratzinger, vor einigen Jahren den Bundestag besuchte, trat er auf Gregor Gysi mit den Worten zu: »Ich kenne ihren Vater!«

1979 zurück in Berlin, wird Klaus Gysi Staatssekretär für Kirchenfragen. Hier spielt er dann politisch erstmals eine Rolle als Reformer. Die Formel »Kirche im Sozialismus« ist eine für Gysi typische: nicht für oder gegen, sondern einfach mittendrin. 1988 bezichtigt ihn das Politbüro, er vertrete eher die Interessen der Kirche als die des Staates - und schickt ihn in Rente. Mit der dem Intellektuellen eigenen Arroganz schüttelt Klaus Gysi den lebenslang getragenen Funktionär ab und sagt dem Staat DDR seinen baldigen Untergang voraus. 1999 stirbt er.

Was bleibt von diesem tief widersprüchlichen Leben? Freigeist und Dogma, Laissez-faire und Parteidisziplin stritten in ihm um Deutungshoheit. Wunden, die er sich selbst und anderen beibrachte, vernarbten nur schwer. Das äußerlich so harmlos scheinende, dabei doch hochdramatische Gespräch, spiegelt diese Lebensverwerfungen.

Gabriele Gysi, Theaterregisseurin, die 1984 in den Westen ging, weil der Staat und sie sich »mächtig auf die Nerven gingen«, übernimmt häufig den apodiktischen Part, der mitunter selbst an die Grenze zum Dogmatischen gerät; Gregor Gysi den relativierenden. Da weiß man dann, was die Geschwister aneinander bindet. Auf Schütts Frage, ob sie ihren Vater verkläre, reagiert die Tochter enerviert - das sei keine Frage, das sei eine Unterstellung. Derartige Reaktionen wiederholen sich, manchmal beendet sie ihre Antworten mit einem hörbaren: »Punkt!« Aber Schütt verwandelt diesen immer wieder in ein Komma, wenn er - als kluger Dramaturg - die Frage an Gregor Gysi weiterreicht. So wird dann aus dem Zusammenprall von Punkt und Komma zumeist ein Semikolon.

Gregor Gysi konstatiert an seiner Schwester eine »sehr entschiedene Art«, die sie schon als Kind gehabt habe. Er lässt nicht erkennen, ob ihn das eher freut oder ärgert. Vielleicht beides zugleich. Haben die Kommunisten als Erste und am entschiedensten den Nationalsozialismus bekämpft, wie Gabriele Gysi meint? Wie in der Geschichte so oft, ist das nur die eine Seite - die andere ist die von Stalins These vom »Sozialfaschismus«, der zufolge die Sozialdemokratie der gefährlichste Feind der Kommunisten sei. Die Geschichte der Komintern: ein weites Feld und Abgrund zugleich.

Gabriele Gysi tritt theoretisch-dialektisch hervor, wo ihr Bruder pragmatisch-vermittelnd bleibt. Daraus resultiert die innere Dynamik des Gesprächs, das kein Streit, aber auch kein bloßes Sich-gegenseitig-Bestätigen ist. Es stellt die Biografie von Klaus Gysi in jenen Jahrhundertzusammenhang, in den sie gehört. Gabriele Gysi verweist auf Sophokles’ »Antigone«, die sie einmal inszenierte. Anfangs fragte sie sich, warum die Beerdigungsfrage, um die das Stück kreist, so prinzipiell gestellt werde. Dann aber habe sie erkannt: »Es kommt nämlich sehr wohl auf den angemessenen Abschied an ... Wie beerben wir das Leben unserer Eltern? Die Toten sind nicht einfach tot, die Beerdigung bleibt ein Problem.«

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