Die Poesie ist auf dem Platz

Der Dichter und Dramatiker Albert Ostermaier über sein neues Theaterstück »Superspreader«, Geisterspiele im Fußball und das Gedächtnis der Elefanten

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 8 Min.

In einem Gedicht von Ihnen heißt es: »angst genügend chaos ausreichend glück teilweise tot«. Lässt sich mit Angst Ihre Gemütsverfassung in der Coronazeit fassen?

Die Angst, das sind die Bleikugeln, die durch die Blutadern jagen, die in den Schläfen pochen. Die Angst verzerrt den Blick, frisst nicht nur die Seele auf, sondern legt die Hoffnung lahm, isoliert sie, sperrt die Gedanken ein. Die Angst ist ein Hinterhalt, in den ich nicht laufen mag, weil ich dort schon oft genug war, an der Wand. Meine Gemütsverfassung ist: gefasst zu sein und zugleich fassungslos. Was ich nicht fassen kann, das schlägt mir aufs Gemüt - bis ich es im Gedicht im Schweben halte.

In Ihrem neuen Stück »Superspreader« stehen grausame Sätze: »Die Welt liegt in meinem Rachen. Mein Rachen ist meine Rache. Ich brauche keinen Selbstmordgürtel, ich mache nur den Mund auf und es knallt. Ich huste und die Raketen starten.« Sind wir noch zu retten?

Wenn wir uns denn nicht rettungslos verloren geben in Selbstaufgabe. Diese Zeit ist voller Fallen und Fallstricke. Es ist wie in Tarkowskis Film »Stalker«: Da ist auf den ersten Blick nur eine einfache Wiese, aber zugleich ist es der gefährlichste Ort auf Erden. Eine unsichtbare Gefahr kann jeden Schritt zum letzten werden lassen. Sind wir noch zu retten? Wenn wir das Selbst retten als ein Wir, dann ja.

»Superspreader« ist ein Porträt der unkontrollierten Wut.

Wut macht nur wütender, sie ist wie das Virus, sie verbreitet sich exponentiell, explodiert im Kopf, in den Worten, sie trübt den Blick, die Augen entzünden sich. Wohin damit, wenn sie da ist? Schlucken, nach innen schlagen, sich selbst die Seele verprügeln, sich Schmerz zufügen, um sich zu spüren? Jetzt, da der Tod das unausgesprochene, aber so dröhnende Wort ist …

Was würden Sie tun, wenn Sie nicht das Schreiben hätten?

Implodieren oder in die Luft gehen, weil ich keine Luft mehr bekomme? Ist das Schreiben ein Betäubungsmittel, um nicht politisch zu handeln? Kann das Schreiben ausreichend politisch sein? Das frage ich mich schon. Ich mag mir nicht vorstellen, dass ich das Schreiben nicht hätte. Das wäre der Horror, ich käme mir wie ein Käfer vor ohne jede Chance auf Verwandlung.

Ist unsere Demokratie in Gefahr? Sind die politisch Korrekten die neuen Diktatoren?

Ich denke, wir müssen seismografisch aufzeichnen, wo unsere Demokratie erschüttert und riskiert wird, wo unsere Freiheit nur mehr Behauptung und Fassade ist. Man muss jeden Tag fragen und es sich beantworten: Welche Freiheit ist die Freiheit? Die eigene Freiheit ist begrenzt durch die Freiheit dessen und derer, deren Leben auf dem Spiel steht.

Spiel?

Nein, das Wort geht auch nicht mehr. Was mich zornig macht: dass jene, die zum Beispiel derzeit gegen Ausgangsbeschränkungen sind, nie aussprechen, was die Schattenseite wäre, wenn man gegen sie ist. Dass also jene, die gegen die Corona-Schutzmaßnahmen sind, nicht auch aussprechen, was es für die Alten, die Gefährdeten, für all jene heroischen Helfer in den Krankenhäusern und Pflegeheimen in der letzten Konsequenz bedeutet. Die Wahrheit ist nicht exklusiv und längst nicht mehr einfach zu haben. Und es gibt nicht mehr nur deine und meine Wahrheit, sondern auch die Wahrheit der Gemeinschaft (ein Wort, bei dem ich innerlich zucke). Wir brauchen keine Besserwisser, sondern besseres Wissen.

Wir dürfen alles sagen?

Und alles wird gesagt! Das Politische ist nie korrekt und kann es nicht sein, es ist immer ein offener Prozess, mit offenem Visier. Der Begriff der politischen Korrektheit ist leider auch ein Kampfbegriff jener, die ihn als Vorwand benutzen, um zu diskriminieren, zu hetzen, auszugrenzen. Unsere Sprache ist entzündet, wir müssen ein Bewusstsein haben, wo sie verletzt, wo sie nur noch in Trennstrichen spricht. Die Sprache ist immer Anarchie, sie ordnet sich keiner Herrschaft unter, nicht einmal der Grammatik. Wie heißt es so schön: Poesie ist Regelverletzung. Wo die Sprache verroht und missbraucht wird, wird die Demokratie gefährdet. Es gibt keine Verbote, ich habe nur Angst vor der Selbstzensur. Aber vorauseilender Gehorsam kann für die Literatur zum Problem werden. Wie sagt Melville? Die Moral liegt in der Präzision.

»ich / fliege alle räume sind leer« heißt es im Langgedicht »Black Box«. Schrecklich oder schön?

Leere ist ein Wort, das Raum schafft. Ich liebe die leere Bühne, bevor der Schauspieler auftritt, das sind magische Momente. Aber wenn der Zuschauerraum leer bleiben muss, die Gänge leer sind, die Garderoben, die Maske? Da werden Gedanken leer. Ich habe vor Jahren Gedichte geschrieben zu den wundervollen Fotografien von Christopher Thomas, Bilder von Venedig ohne Menschen. Das war atemberaubend und unvorstellbar: Venedig leer, nur der Atem der Gebäude, des Wassers. Der Nebel, der Stein. Jetzt hatte ich den Band wieder in der Hand, die Bilder wirkten plötzlich vertraut in dem, was sie zeigen. Der Lockdown verändert die Wahrnehmung, schärft die Unschärfen, verdunkelt aber auch. Leere ist für mich noch immer Schönheit, aber nicht, wenn sie so wie jetzt erzwungen ist, wenn alles so leer gefegt ist.

Der Konsum magert uns ab. Was wir kaufen, saugt uns aus. Die »seele nur haut / und knochen« - so haben Sie in einem Gedicht geschrieben. Wo liegt noch Zuversicht, gesund zu werden?

Ich bin ja katholisch aufgewachsen. Mein liebster Satz während der Messe, der Satz überhaupt, der für mich Zukunft war: Und sagst du nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Damit ist alles gesagt. Ich bin ein Optimist wider besseres Wissen. Ich will nicht entmutigt sein. Ich glaube immer, bis zum Abpfiff, an ein Wunder - und ein Wunder aus eigener Kraft. Zuversicht gibt die Sicht frei, dass es anders sein könnte und anders sein kann.

Greta Thunberg als Protagonistin des Protestes - was erzählt es über unsere Zeit, dass just dieses Mädchen zur Leitgestalt wurde?

Es erzählt, dass wir unseren Kindern die Zukunft geraubt haben und rauben. In einem Mädchen, das die Zukunft noch vor sich haben sollte und will, können wir das begreifen, besser: spüren. Dass wir dieses Mädchen nötig haben - es erzählt unser Versagen. Die Jungen kämpfen für ihr Überleben, das ein Leben bleiben soll.

Setzen Sie noch Hoffnung in politische Bewegungen?

Es bewegt sich politisch nichts, höchstens in die falsche Richtung, nach rechts. Das Rechte ist parasitär, wir sind längst sein Wirt. Wir reden von der Mitte, aber diese Mitte ist auch nach rechts verschoben worden. Mir macht Sorge, dass so vieles nur über Oberflächenreize funktioniert und jede Meinung zu schnell kommt. Ich frage mich, warum wir so wenige neue Idee generieren, warum wir so einfallslos sind. Ich muss an Ernst Toller denken: Wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben. Warum träumen wir nicht mehr? Weil wir schon nicht mehr leben?

Falls Sie für den Tierschutz sind - das bedeutet auch Abschaffung der Elfenbeintürme. Traurig? Wo sollen die Dichter nun leben?

Der Elfenbeinturm war für mich immer eine grauenhaft klaustrophobische Vorstellung, die an den Schrecken im Hotel in »Shining« denken lässt. Ein Dichter braucht Membrane, eine Haut, aus der er fahren kann. Ein Dichter lebt auf dem Platz, lebt von dem Platz. Außerdem glaube ich an das Gedächtnis der Elefanten, sie werden sich ihr Elfenbein zurückholen!

»... wir tauschen mit den Tieren, wir gehen in die Wälder und sie in die Städte bis sie uns auf den Märkten an Haken hängen und uns an Fledermäuse verkaufen und Schuppentieren und alles von neuem beginnt. Die Viren mutieren und wir werden zu Mutanten.« Die Frage, nachdem man »Superspreader« gelesen hat: Was hält Sie davon ab, zynisch zu werden?

Ich lasse mich lieber einen Romantiker denn einen Zyniker schimpfen. Zyne wendet sich ab, ich wende mich lieber zu. Im tiefsten Grunde meines Herzes halte ich es immer mit Brecht und glaube und hoffe auf die Veränderbarkeit der Welt.

Als Fußballmensch: Gewinnen Sie dem Wort »Geisterspiel« bitte eine poetische Deutung ab.

Poetisch wäre es, wenn Geister spielen, Diego wieder aufläuft, Rossi, Best, all die Unsterblichen - und sie miteinander dem Spiel wieder jenen Geist einhauchen, den der Fußball verspielt hat.

Der Torwart will ein Tor vermeiden, sehnt sich aber nach dem Duell. Der Dramatiker will Frieden, sucht aber den Konflikt. Sind Kampf und Katastrophen unsere Lehrmeister? Die Antwort des Coronavirus kennen wir.

Wer sagt, dass Dramatiker Frieden wollen? Ein Dramatiker darf nie seinen Frieden wollen, sonst ist er befriedet, also tot. Als Torwart lernt man beim Duell mit dem Stürmer: stehen zu bleiben, nicht zu weichen, auch wenn es kaum auszuhalten ist.

Nächste Vorstellungen von »Superspreader« am 18., 19. und 22. Dezember auf Zoom über die Internetseite des Münchner Residenztheaters.
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