Versunkenes Panorama

Wolfgang Kröplin hat seine umfangreiche Untersuchung des Theaters des Ostens vorgelegt – von den unklaren Anfängen bis zum Sozialismus

  • Christoph Woldt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wolfgang Kröplin kennt sich aus im Theater des Ostens. Als Theaterwissenschaftler lehrte er an der Leipziger Theaterhochschule, als Chefdramaturg wirkte er am Leipziger Schauspiel. Als Rezensent und Autor hat er die Theater der »sozialistischen Bruderstaaten« bereist und beschrieben, sich mit Autoren, Regisseuren und der Bedeutung von Theater in den Ländern des Ostblocks intensiv auseinandergesetzt wie kein anderer.

Bereits 2013 hatte Kröplin seine Recherchen und Erkundungen zu osteuropäischen Theatertraditionen im 20. Jahrhundert veröffentlicht. In den zwei Bänden von »Auf der Suche nach dem unbekannten Theater« hatte der Theatermacher und -kritiker die unterschiedlichen Konzepte und nationalen Besonderheiten im 20. Jahrhundert aufgegriffen und ein vitales Bild des Theaters in Mittelosteuropa vorgelegt. Eine tiefe Analyse des Theaters in Polen, der Sowjetunion, in Tschechien, in Ungarn und in Bulgarien, von der Oktoberrevolution bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Zwei wichtige Bücher über Theater, randvoll gefüllt mit Geschichten, Schicksalen und Traditionsbezügen.

In seinem neuen Buch »Spiel-Zeiten und Spiel-Räume des Theaters in Europas Osten« beleuchtet Kröplin die Geschichte der osteuropäischen Theaterwelt aus einer anderen Perspektive. Er geht auf Distanz und versucht das Theater - quasi auf der Metaebene - als Kulturpraktik über mehrere Jahrhunderte zu erfassen. So verändert sich der Blick und wird geweitet. Die Geschichte des Theaters wird als Teil kultureller Praktiken dargestellt, die marginalisierten Ränder werden beleuchtet und die Entwicklungen in der DDR einbezogen. Herausgekommen ist eine materialreiche Suche nach kulturellen Mustern im östlichen Kulturraum vom Zentrum bis an die Peripherie Europas.

Kröplin startet bei den Anfängen und endet mit dem Zusammenbruch des »verordneten« Sozialismus. Das ist ein großer Bogen von mehr als 1000 Jahren und mit vielen unterschiedlichen Ländern von Albanien bis Lettland und Estland bis zur Tschechoslowakei. Wo fängt das Theater an, wenn es nicht vom Thespis-Karren oder aus Athen stammt? Kröplin sieht die Anfänge im thrakischen Dionysos-Kult und kommt dann von Karnevalsbräuchen zu Fruchtbarkeitsriten, die er als »fertilitätspromovierende Rituale« bezeichnet. Weiter geht es mit Schamanenschauspielen von berittenen Nomaden. Folgerichtig heißt das zweite Kapitel »Sarmatische Koordinaten«. Die Erläuterung der sarmatischen Reitervölker folgt ein paar Sätze später und findet sich wortgleich bei Wikipedia.

Nun mag dies unwesentlich sein, doch inwieweit der Einfluss iranischer Reitervölker und ihr Eindringen in den europäischen Raum während der Völkerwanderung sich auf das Theater im indoeuropäischen Sprachraum auswirkt oder ob Sarmatien als Vielvölkerraum in Osteuropa die Geburtskrippe des Theaters sein könnte, bleibt im Dunkeln. Da klingt die Vielfalt der Bezüge oder das Heraufbeschwören der Bedeutung dieser Recherche zuweilen etwas gewollt. Auf dem Buchrücken wird die Suche nach Antriebsgefügen, Spielregeln und Rahmenbedingungen versprochen. »Osteuropa als gemeinsamer Erfahrungs- und Geschehensraum«, das klingt gut, doch die Breite des Panoramas fordert ihren Tribut. Die vielen Studien, Ideen und Bezüge lassen den klaren Fokus einer kulturgeschichtlichen Lesart vermissen. Vielleicht ist dies auch ein Reflex auf die üblichen Geschichtsschreibungen, die meist einen erzählerischen Bogen oder eine große Idee haben.

Dennoch ist die Recherche als Reflex auf die europäische Zentrierung der Geschichtsschreibung auf das Europa zwischen London, Rom, Paris, Berlin, Wien, Madrid und Athen wichtig. Dabei ist Kröplin auf Literatur wie auch Pressezeugnisse angewiesen, denn mediale Zeugnisse zu den Theaterevents vor mehr als 100 Jahren sind rar. Interessant sind die Ausführungen zu den starken Einflüssen der europäischen Avantgarde am Anfang des 20. Jahrhunderts. In fast jedes Land Osteuropas wirkten die Schübe und Ideen aus den westeuropäischen Metropolen. Auffallend ist, dass die Impulse von den Künstlern in Osteuropa aufgenommen wurden. Die Richtung der Bewegung war klar, die Reflexion des Ostens in Westeuropa war gering oder beschränkte auf die russische Avantgarde oder die Künstlergruppen in Prag.

Die Recherchen in den Archiven und Quellen vereinen auch Zitate aus Werken oder Aufsätzen zur Kultur des Ostens und sind insofern ein guter Auftakt für weitere Forschungen. Gerade diese ausgeführten Bögen und Bezüge sind wichtig, beleuchten sie doch eine Leerstelle im kulturellen Diskurs. Manchmal wirken Kröplins Quellen etwas gewöhnungsbedürftig, da werden für die Beschreibung eines Begriff von Theater in der DDR vergessene Essayisten wie Gerhard Branstner für das Wort »Vorahnung« herangezogen oder der Berliner CDU-Politiker Eberhard Diepgen zitiert, um den Umgang mit Osteuropa oder die Zentrierung auf die westliche Hochkultur mit dem Begriff »Rheinbundmentalität« zu orchestrieren.

Kröplins Theaterverständnis ist geprägt von der Leipziger Theaterhochschule und ihren Köpfen Rudolf Münz und Joachim Fiebach. Doch die Recherchen in der Zeit vor der »Schriftlichkeit« oder der Aufbewahrung von Theatererinnerungen führen gerade nicht zwingend zu einem behaupteten »besonderen Nationaltheatertyp«. Dies ist eine These und zugleich eine offene Rechercheform, die dann mit allem verfügbaren Archiv- und Literaturmaterial angereichert wird. Natürlich werden die polyphonen Eigenheiten und Besonderheiten der osteuropäischen Traditionen herausgearbeitet, der Einfluss des Jahrmarkttheaters und des östlichen Judentums.

Anschaulicher und stärker sind die Kapitel der näheren Theatergeschichte beziehungsweise seit 1945. Hier kann Kröplin seine Kenntnisse souverän ausstellen und führt kenntnisreich an vielen Orten in Europas Osten die spezielle Funktionalität von Theater im gesellschaftlichen Diskurs vor. Das ist und bleibt ein großes Unterfangen, ein gewaltiger und selektiver Ritt durch die Zeitgeschichte von der DDR über Polen, die Sowjetunion und bis zu den »sozialistischen Bruderstaaten«.

Theatergeschichtlich präsentiert Kröplin auch eine eigene Struktur für die Funktionalität des »sowjetisch geprägten« Theaters. Dies wirkt innerhalb der Buchanlage etwas überraschend und auch nicht neu, aber vielleicht ist es das Vermächtnis des 1941 geborenen Hochschullehrers. So ermittelt er für das Theater im Sozialismus drei wesentliche Komponenten. Zuerst die prägende selektive Traditionsbestimmung, den Bezug auf bürgerliche Klassiker und die Verbannung der experimentalen Moderne, dann die Theorie des sozialistischen Realismus - der Fokus auf den proletarischen Helden - als aktualisiertes Kunstmodell verknüpft mit einem Glauben an die Einfühlung im Sinne von Aristoteles, Lessing oder Georg Lukács. Die dritte Dimension stammt aus der Feder des sowjetischen Kulturpolitikers Anatoli Lunatscharski, der Kunst als Predigt forderte.

Die Konsequenz ist, dass das Theater seine Potenziale als Diskurs- und Experimentierraum verliert und als politisch-affirmatives Instrument zum bedeutungslosen Dekor verkommt. Natürlich forderte dieser repressive Ansatz die widerständigen Künstler mit ihrem Wunsch nach einem Theater als Labor und Freiheitsraum heraus. Das Ergebnis war der sogenannte Zickzackkurs aus Hoffnung, Tauwetter und Repression. Anfang der 80er Jahre ging das Aufbegehren in eine neue Phase, da mehr Freiräume außerhalb und innerhalb des offiziellen Systems zugelassen wurden. Das Ausloten der Grenzen im offiziellen Kunstbetrieb mit List und Fantasie oder die Gratwanderungen in den Vorstellungen einer gewachsenen Off-Szene werden von Kröplin kenntnisreich geschildert. Am stärksten sind die Schilderungen der Entwicklungen in der DDR, der Sowjetunion und in Polen.

Konsequent bleibt Kröplin auch seinem Stil als Autor treu. Enthusiastisch überrascht er seine Leser wie immer mit Wortschöpfungen und umfangreichem Vokabular. Ein wichtiges Buch mit vielen Fundstellen zum Theater gegen das Vergessen im Osten. Insgesamt ist der theatrale Anteil im Vergleich zum historischen Anlauf und Nachlauf etwas zu kurz geraten. Zusammengekommen ist eine große Draufsicht auf die osteuropäische theatrale Kulturgeschichte als Geschichte der Repression und des Strebens nach Emanzipation - materialreich und fragmentarisch zugleich.

Wolfgang Kröplin: Spiel-Zeiten und Spiel-Räume des Theaters in Europas Osten. Seiten einer Kulturgeschichte - von den Anfängen bis zum sozialistischen Ende. Königshausen & Neumann, 444 S., br., 58 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.