Den Kapitalismus in seinem Lauf ...
Die Maueröffnung aus Sicht einer kritischen Frau aus dem Westen
Am historischen Wochenende im November 1989 waren wir gar nicht in Berlin, die »Tagesschau« sahen wir aber trotzdem und trauten unseren Augen nicht: Da standen die Leute auf der Mauer herum, drängten durch die Grenzkontrollen und waren völlig außer sich vor Begeisterung. Na, dachte ich so bei mir, wenn das mal gut geht. Doch nicht nur auf der Mauer tat sich Seltsames, auch in unserer Wohngegend, um die Wilmersdorfer Straße herum. Dort stand alles voller Trabis, Ladas und Wartburgs, sodass ich für meine kleine Kiste kaum einen Parkplatz fand.
Liebe Leserinnen und Leser, Sie haben uns über das Jahr viele spannende Geschichten zu ihren Erlebnissen im Wendejahr 1989/90 geschickt. Die Reisefreiheit war ebenso Thema wie das Begrüßungsgeld oder eine erste Butterfahrt nach Hamburg.
Sie schrieben uns, wie ihre Arbeitsbereiche von Westdeutschen übernommen wurden, besonders im akademischen Bereich. Vielen Dank für all die Einblicke in Ihre Erlebnisse, auch wenn wir leider nicht alle Beiträge veröffentlichen konnten, die Sie uns zugesandt haben.
Auch der letzte Beitrag, von Brigitte Apel aus westdeutscher Sicht erzählt, ist keine »Erfolgsgeschichte«. Sie berichtet von einem unfreiwilligen »Alteigentümer« einer Berliner Immobilie, den die Rückübereignung nach der Wende in hohe Schulden stürzte.
An der im Osten wie im Westen um sich greifenden Euphorie konnte ich mich nie so recht von Herzen beteiligen, eher entwickelte ich seherische Fähigkeiten, was die Folgen der Ausbreitung der sogenannten sozialen Marktwirtschaft in der DDR betraf. Man muss wohl auch »gelernter Wessi« sein, um dieses Systems durchschauen zu können.
Als ich nach ein paar Wochen dem Osten Berlins einen Besuch abstattete, begegnete mir als Erstes in einer verlorenen Ecke der Stadt ein Container mit der Aufschrift: Dresdner Bank. Da wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte.
Für einen guten Freund von mir kam es ganz schlimm: Der Mann musste schon 1978 sein Berufsverbot verkraften, weil er aktives Mitglied einer zugelassenen Partei war, die aber nach bundesdeutschen Verfassungsschutzerkenntnissen angeblich nicht auf dem »Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung« stand. Nach elfjähriger untadeliger Beamtentätigkeit hatte er sich als berufs- und brotloser Mensch mit vierköpfiger Familie wiedergefunden. So viel zum Rechtsstaat im Gegensatz zum »Unrechtsstaat«: Hier bei uns in der BRD wurde politische Verfolgung - streng recht(s)staatlich, versteht sich - natürlich nicht infrage gestellt.
Wer hatte ihn denunziert? Wer war der Spitzel des Verfassungsschutzes? Offenlegung der Akten? Aber ich bitte Sie, das ist bei uns im Westen nicht nötig, hier geht schließlich alles nach Recht und Gesetz! Das politische Unrecht wird nur bei anderen angeprangert und bei untergegangenen Systemen aufgearbeitet. Das versteht sich von selbst.
Vergessen hatte der Rechtsstaat seinen verstoßenen Bürger aber nicht. Bald nach der Übernahme der DDR bekam er von seiner Sparkasse einen Kontoauszug über 660 000 DM, leider mit einem fetten Minus davor. Folgendes war geschehen: Beim Tode seines Vaters in den 70er Jahren hatte er in Berlin-Friedrichshain dessen Haus geerbt, alter Familienbesitz, Baujahr circa 1890. Er hatte den Stadtbezirk um Enteignung angefleht, aber sie wurde ihm nicht gewährt - und so geriet er an »Privatbesitz«. Arbeit und Sorgen hatte er damit nicht, von alters her kümmerte sich ein Verwalter darum.
Das Erbe auszuschlagen, konnte er dem alten Vater nicht antun, der hatte nämlich die letzten zehn Jahre seines Lebens sorgengequält damit verbracht, seine Habe sinnvoll zu verteilen: Wer würde das gut sortierte Fotoarchiv übernehmen? Der Kulturbund sollte die Volksliedsammlung erhalten; den alten Kirschholzschrank und das Buffet bekam Lothar Berfelde, die spätere Charlotte von Mahlsdorf, für sein Museum. Mein Freund hatte nur die vielen Familienzeugnisse übernommen und auch einige Bilder und Kleinmöbel als Andenken.
Irgendwann, noch vor dem Mauerfall, wurde der ganze Häuserblock in Friedrichshain im Zuge der Stadtentwicklung renoviert. Staatliche Kredite waren dazu nötig, ganz klar - darüber wurde er informiert. Aber das bereitete ihm keine Sorgen: Für ihn lag das Haus in einem anderen Staat, mit anderen, begrüßenswerten Eigentumsverhältnissen, und es war ihm eher peinlich, dort Besitzer eines Mietshauses zu sein.
Nun hatte ihn mit der Einheit des Landes dieses Erbe wieder eingeholt - woher seine Sparkasse wohl die DDR-Staatskredite hatte? Hier wäre vielleicht ein kleines, allerdings leicht abgeändertes Zitat eines gewissen E. H. angebracht, Sie wissen schon: »Den Kapitalismus in seinem Lauf …«
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