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- Krise als Normalfall
Nahe am Jackpot
Krise als Regelfall: die Verdichtung des Katastrophischen und die Pandemie.
Gut zehn Jahre ist es jetzt her, dass sich das Reden von »der Krise« in der Alltagssprache festgesetzt hat. Die geplatzte US-Immobilienblase, die subsequente Lehmann-Pleite, die Beinahe-Kernschmelze des Finanzmarkts, die »Schulden-« und die »Eurokrise« sowie die Verwerfungen des »Arabischen Frühlings« - bald jede zweite Publikation zu sozialen, kulturellen oder ökonomischen Umständen der Zeit trug schon vor einem Jahrzehnt den Begriff »Krise« im Titel.
In linken Debatten ging es mal um die Krise der Reproduktion, dann in den Leitmedien um die Krise der repräsentativen Demokratie, oder es wurde gleich die Krise des Kapitalismus an sich ausgerufen. Zwischen einer Analyse der Krise der Schuldenregime und der damals noch deutlich weniger, aber auch schon jenseits der umweltpolitischen Nische diskutierten Klimakrise standen plötzlich - je nach Debattenort - die Stellschrauben der neoliberalen Herrschaftslogik der vergangenen 30 Jahre zur Disposition. Die an der marxschen Theorie orientierte Schule der »Wertkritik« sammelte sich bis zu einem Zerwürfnis anno 2004 in einer Gruppe und um eine Zeitschrift, die sogar so hieß: »Krisis«. Es ist tragisch, dass Robert Kurz, einst einer der Köpfe dieser Gruppe und langjähriger Kolumnist auch dieser Zeitung, 2012 plötzlich verstarb - inmitten jener Finanzmarktkrise, die er lange hatte kommen sehen. Galt es doch zu diskutieren, wie in dieser schon damals viel beschworenen multiplen Krise sich die »innere Schranke« des Kapitalverhältnisses zeigte.
Corona ist nicht 2009JF1
Dass sich im Zuge von Corona-Pandemie und Lockdown auch besagte Wertkritik wieder zu Wort meldet mit dem Sammelband »Shutdown«, liegt da ebenso nahe wie dessen Fazit, das grob gesagt auf die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus hinausläuft. Denn gleichgültig, ob eine empfindliche kapitalistische Ökonomie durchs Herunterfahren kurz vor dem Kollaps steht, ob die profitorientierte medizinische Versorgung eine effiziente Bekämpfung der Pandemie empfindlich erschwert oder der Staat mit seinen keineswegs keynesianischen Regulierungen plump als Retter und nicht als Bestandteil des Marktes gesehen wird: Wie soll im und mit dem Kapitalismus eine solidarische Krisenlösung aussehen? Dabei ist der Fokus auf eine Abfolge der Krisen interessant, den die Herausgeber Norbert Trenkle und Ernst Lohoff in ihrem Buch einnehmen. Denn die Corona-Pandemie wird derzeit gerne als Gegenstand von staats- und gesundheitspolitischem Management gesehen. Eine Kontextualisierung mit den übrigen Krisen, über die wir im vergangenen Jahrzehnt so viel gelesen und gehört haben, findet kaum statt. Als hätte das Pandemieereignis sämtliche Diskurse der letzten Jahre einfach weggespült, obwohl sie viel mit dem zu tun haben, was gerade geschieht.
Genau jetzt ist es interessant, die staatliche Interventionspolitik in Sachen Wirtschaft mit dem zu vergleichen, was vor gut zehn Jahren im Zuge der Finanzmarktkrise passierte. Denn während alle gebannt auf die Hilfsgelder für die kleinen Leute schauen, um die vordergründig immer wieder gestritten wird, gerät schnell der 600 Milliarden Euro schwere Wirtschaftsstabilisierungsfonds aus dem Blick, mit dem Lufthansa, TUI und Konsorten »geimpft« werden und der ähnlich wie der Finanzmarktstabilisierungsfonds vor gut zehn Jahren funktioniert. Derweil interagiert die rechte Mobilmachung als Teil einer Krise der westlichen Demokratien fleißig mit einer teils ins Aberwitzige verschobenen Kritik an gesundheitspolitischen Maßnahmen und hat sich hier ein überaus wirkmächtiges Bewegungsfeld erarbeitet.
Der Virus ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist kein externer Faktor, keine höhere Gewalt wie es jener Asteroid namens 2009JF1 wäre, der laut einer Warnung von NASA-Forschern aus dem vergangenen Sommer womöglich im Mai 2022 auf der Erde einschlagen und eine Katastrophe in der Größenordnung von 15 Hiroshimabomben nach sich ziehen wird. Covid-19 ist Teil des kapitalistischen Wirtschaftens und einer daraus resultierenden Klimakrise, deren Brisanz nicht mehr infrage zu stellen ist. Auch über die Bedeutung unter anderem von Fleischwirtschaft und Brandrodung für die Zoonose - die Übertragung eines tierischen Virus auf den Menschen wie bei Corona - muss nicht mehr diskutiert werden. Ganz abgesehen davon, dass die Wahrscheinlichkeit einer weiteren zoonotischen Pandemie im Lauf der nächsten Jahre oder Jahrzehnte erheblich ist. So ist die Corona-Pandemie fest eingebettet in den Modus Operandi des extraktiven Kapitalismus und seiner Krisengeschichte.
Der auch in dem Wertkritikband »Shutdown« fleißig zitierte Politikwissenschaftler Ulrich Brand (Uni Wien), der sich derzeit vor allem mit dem Phänomen der imperialen Lebensweise beschäftigt, formulierte vor gut zehn Jahren seine These der multiplen Krisen, die vor allem eine Folge des postfordistisch-neoliberalen Regimes der letzten 30 Jahre seien. Diese Krisen sich als miteinander verschränkt und gegenseitig bedingend vorzustellen, entwirft ein weitaus realistischeres und komplexeres Bild unserer Zeit als eine plumpe Ereignisabfolge.
Impfen ist wie Hollywood
Die Corona-Pandemie losgelöst von den übrigen Krisenereignissen der vergangenen Jahre zu lesen, dabei die kolossalen medizinischen, sozialen und ökonomischen Folgeschäden aus den Augen zu verlieren und auf eine simple Auflösung und ein Ende durch Verabreichung eines Impfstoffes zu warten, entspricht ein wenig der Krisenlösung, wie sie Hollywood für gewöhnlich bereithält.
Auch in der Kulturindustrie ist die Krise im vergangenen Jahrzehnt als fester Bestandteil narrativer Diskurse angekommen. Die Weltuntergangsszenarien im Blockbusterformat - allerlei Zombieapokalypsen, Klimaschocker, Alieninvasionen und nachkatastrophale Wüstenmärchen - enden indes immer mit einer Menschheitsrettungspointe. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die hierzulande gängigen Mimen als Jens Spahn und Co. im Doku-Fiction-Format das Vaterland vom Virus befreien.
Natürlich gibt es im Film auch anspruchsvollere Krisenerzählungen, etwa Alfonso Cuarons höchst sehenswertes Drama »Children of Men« (2006), das ebenso spätkapitalistische Brutalität wie rassistische Migrationspolitik ausbuchstabiert. Interessant für die multiplen, ineinander verschränkten und sich gegenseitig befördernden Krisendiskurse ist aber vor allem die aktuelle Romantrilogie des mittlerweile 72-jährigen Science-Fiction-Altmeisters William Gibson, der vor 35 Jahren unter anderem den Begriff »Cyberspace« prägte.
Die zur Trilogie gehörenden Romane »Peripherie« (2014) und »Agency« (2019) werden im nächsten Jahr bei Amazon als Serie zu sehen sein. Gibson entwirft hier eine Dystopie in der Mitte des 22. Jahrhunderts. 80 Prozent der Menschen sind einem Phänomen namens »Jackpot« zum Opfer gefallen. Der für den dritten, noch nicht erschienenen Teil titelgebende »Jackpot« ist eine Kette von Krisenereignissen, die sich über Jahrzehnte erstreckt: Pandemien, Klimakatastrophen, Kriege, ökonomische Verwerfungen. Was genau aber der »Jackpot« ist, wann er begonnen hat, ob er endet, das hat der Autor in den ersten beiden Bänden noch nicht erläutert. Zu fürchten aber steht, dass Gibsons multikausale Langzeitapokalypse der Realität unangenehm nahe kommt.
Regel- und Ausnahmezustand
Ein historischer Blick auf die Verbindung und Dynamik jener Krisenereignisse - also eine Bestandaufnahme der Gegenwart - scheint derzeit schwierig angesichts permanenten Ad-hoc-Handlungsdrucks. Dabei ist das von vielen herbeigesehnte keynesianische Füllhorn - das so voll und sozial bei Licht betrachtet gar nicht ist - womöglich schon die Schuldenkrise von morgen. Während unklar bleibt, ob und wer dafür bezahlt, ist eine autoritäre neoliberale Verschärfung wahrscheinlicher als eine Beteiligung von Krisengewinnern wie eines Jeff Bezos oder der deutschen Supermarktdynastien.
Schon im 19. Jahrhundert waren Gesundheits- und Seuchenpolitik zentral für die Entwicklung von Staat und Regierungshandeln. Das wird auch jetzt nicht anders sein. Inwieweit sich jene »Stunde der Exekutive«, die nun schon bald ein Jahr andauert, einpassen könnte in einen weitergehenden, autoritären Rechtsruck und welche Auswirkungen all das auf das demokratische Selbstbewusstsein der Bevölkerung nehmen könnte, das bleibt besser nicht abzuwarten. Denn wenn die Corona-Pandemie kein Ausnahmezustand ist, sondern ein Einstieg in ein Szenario fortlaufender, multipler Krisen, drängt eine Lösung von unten mehr denn je. Aufgreifen und pandemisch aktualisieren ließen sich dabei jene transnationalen Protestdynamiken, die vor einem Jahrzehnt ja auch ein Effekt der »Krise« waren.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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