Neue Leitlinien für das Massenphänomen Sucht
Zu wenige Abhängige erhalten eine Therapie - Behandlungsempfehlungen sollen bei der Entstigmatisierung helfen
200 Menschen sterben in Deutschland täglich durch Alkoholmissbrauch. Die Folgekosten alkoholassoziierter Störungen von mindestens 30 Milliarden Euro pro Jahr liegen an der Spitze aller durch psychische Störungen verursachten Ausgaben. 330 000 stationäre Behandlungen sind dadurch pro Jahr nötig. Damit werden sie zur zweithäufigsten Diagnose, bezogen auf alle in Krankenhäusern hierzulande behandelten Patienten.
Beunruhigende Zahlen gibt es weiterhin zum Rauchen, auch wenn hier junge Menschen neuerdings weniger zu den Hauptkonsumenten gehören. Dennoch gilt mindestens die Hälfte der regelmäßigen Raucher als abhängig, das sind bundesweit bis zu neun Millionen Menschen. Am meisten verbreitet ist das Qualmen bei Männern zwischen dem 25. und 40. Lebensjahr, bei Frauen zwischen dem 25. und 60. Lebensjahr. Nach Schätzungen sind 13,5 Prozent der Todesfälle in Deutschland durch Tabakkonsum mit bedingt, weitere sechs Prozent durch kombinierten Tabak- und Alkoholkonsum.
Bei schädlichem Medikamentenkonsum spricht die Zahl von geschätzt drei Millionen Todesfällen pro Jahr ebenfalls für sich. Damit sorgen die drei Substanzgruppen bei den Suchterkrankungen für die höchsten gesellschaftlichen Folgekosten. Zu befürchten ist, dass unter Pandemiebedingungen die Konsumentenzahlen steigen und sich das Suchtverhalten verstärkt. Erste Hinweise darauf gibt es bereits: So gaben bei einer Studie im Frühjahr 2020 während des ersten Lockdowns 40 Prozent der Befragten einen erhöhten Alkohol- und Tabakkonsum an. Psychiater und Therapeuten vermuten, dass sich das wirkliche Ausmaß erst nach dem Ende der Pandemie zeigen wird.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass in Deutschland zum Beispiel nur zehn Prozent der Alkoholabhängigen vom Suchthilfesystem versorgt werden. Hinzu kommt, so Falk Kiefer, Ärztlicher Direktor einer Klinik am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, dass in der üblichen hausärztlichen Praxis der Alkoholkonsum nicht routinemäßig erfasst wird - obwohl er mit mehr als 40 wichtigen medizinischen Diagnosen in engem Zusammenhang steht. Kiefer gehört mit zu den Autoren der neuen S3-Behandlungsleitlinien, die am Mittwoch in Berlin für die drei genannten Suchtbereiche vorgestellt wurden. Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde wirkten Dutzende Fachgesellschaften sowie Vertreter von Patienten und Angehörigen zusammen, um die Diagnose- und Behandlungsstandards zu aktualisieren. S3-Leitlinien entsprechen außerdem höchsten methodischen Standards, hierfür wurden etwa neuere Studien systematisch bewertet.
Für den Bereich der Alkoholabhängigkeit sind laut dem Psychiater Kiefer hochwirksame therapeutische Interventionen bekannt. Jedoch trügen Scham und Ignoranz dazu bei, dass Betroffene zu spät Hilfe suchen. Diese Form der Abhängigkeit müsse aus der Stigmafalle heraus, so Kiefer. In den Leitlinien werden frühe Interventionen empfohlen. Sie sollen ein weites Spektrum an Therapiezielen umfassen - von der Reduktion der Trinkmengen bis hin zu lebenslanger Abstinenz. Auch gehe es darum, etwa bei gleichzeitiger Erkrankung an einer Depression die Sucht begleitend mit zu behandeln.
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