- Kommentare
- Fußball
Der Rasen als Kinoleinwand
Sonntagsschuss: Fußball hat dieser Tage etwas sehr Surreales, findet unser Kolumnist, der neben Schalke einem anderen Verein den Abstieg gönnt.
Irgendwie ist es mit der Fußballbundesliga derzeit wie mit einem Kinofilm. Wer ein Ticket löst, versinkt mindestens eineinhalb Stunden in einer anderen, abgedunkelten Realität. Theoretisch könnte derweil draußen vorm Kinoeingang ein Amokläufer seinem Job nachgehen, der Dritte Weltkrieg könnte vom Zaun gebrochen werden, die Fußgängerzone nach einem Deichbruch geflutet werden. Drinnen, im Dunkeln, bekäme man nichts von alldem mit.
Ähnlich geht es einem, wenn man dieser Tage über den Profifußball berichtet, der natürlich schon in coronafreien Zeiten objektiv betrachtet grotesk überhöht wurde, der aber jetzt ein komplettes Eigenleben führt. Als ich am Samstag zum Bundesligaspiel des SC Freiburg gegen den VfB Stuttgart ging, fiel mir das erstmals seit Wochen wieder auf. Gerade ruckelte ich vorm Stadioneingang meine FFP-2-Maske (neuerdings auch im Stadion für die rund 20 Journalisten vorgeschrieben) zurecht und füllte den »Hygienefragebogen« an Punkt 4 (»Ich habe mich meiner Kenntnis nach nicht in den letzten 14 Tagen in einem Gebiet aufgehalten, das vom Robert-Koch-Institut in dem Zeitraum meines Aufenthalts als ausländisches Risikogebiet eingestuft war«), als zwei Joggerinnen an mir vorbeiliefen und den Stuttgarter Mannschaftsbus erblickten, der jenseits der Büsche, vor der ansonsten menschenleeren Haupttribüne, geparkt war. »Ach ja, der SC spielt ja heute«, sagte die eine. »Da wäre ich ja jetzt normalerweise.« Und beide lachten. An den Sportclub, ganz offenkundig ihr Lieblingsverein, hatten beide offenbar seit Wochen keinen Gedanken mehr verschwendet. Es gibt eben zur Zeit Gesprächsthemen, die deutlich wichtiger sind.
Das empfinden natürlich eigentlich auch wir Sportjournalisten so. Und trotzdem gelingt es uns ab dem Moment, ab dem wir den Hygienefragebogen abgegeben haben, in die Scheinwelt abzutauchen, deren Kinoleinwand ein großes grünes Rasenrechteck ist. Wir diskutieren uns dann die Köpfe heiß über die merkwürdigen Gedächtnislücken, die beim VfB Stuttgart ausgerechnet die Offiziellen befallen haben, die die illegale Weitergabe von Mitgliederdaten erst angeordnet und dann blitzschnell vergessen haben, als der Datenschutzbeauftragte und die Juristen ermittelten. Wir diskutieren über die Lage bei Hertha BSC Berlin, wo mal wieder ein Trainer an einem Kader gescheitert ist, der so gestrickt ist wie Mannschaften nun mal gestrickt sind, die mit viel Geld und wenig Verstand zusammengestellt wurden. Wenn es im Fußball eine Gerechtigkeit gäbe, müsste neben Schalke 04 auch der »Big City Club« absteigen, dann hätte diese groteske Saison wenigstens noch einen Sinn.
Was aber passiert eigentlich, wenn diese Spielzeit zu Ende ist, und vielleicht irgendwann mal wieder eine nennenswerte Anzahl von Zuschauern ins Stadion darf? Kommen die Ultras wieder, die - um keine Sonderrechte für sich zu reklamieren - ja mehrheitlich mal geschworen haben, erst dann wieder ein Stadion zu betreten, wenn auch wirklich alle wieder reindürfen? Was hat Corona angerichtet? All die Spieler, die dennoch Millionen verdient haben, teilweise sogar pro Monat? Die sich alle paar Tage die Haare schön machen lassen, während die Friseursalons geschlossen bleiben müssen? Die, wie offenbar der Gladbacher Breel Embolo, nach einem Spiel noch zu einer Party nach Essen fahren, und - sportlich, sportlich - übers Dach in die Nachbarwohnung fliehen, als die Polizei aufkreuzt?
Gut möglich, dass die Leute all das wieder vergessen haben, wenn irgendwann in naher oder ferner Zukunft der Bundesliga-Zirkus wieder die Massen abkassieren darf. Von den jeweiligen Schauspielern erwarten ja schließlich auch nur die wenigsten, dass sie im Privatleben nette Menschen sind. Schon gar nicht, wenn der Kinofilm, in dem sie mitspielen, unterhaltsam ist. Es kann aber auch gut sein, dass die Joggerinnen vom Dreisam-Ufer repräsentativ sind für viele, viele Menschen, die in den letzten Monaten gemerkt haben, dass sie den Samstagnachmittag nicht vorm Fernseher verbringen müssen, um ein schönes Wochenende zu verbringen. Die beiden Frauen joggten jedenfalls weiter und würdigten das im Flutlicht glänzende Stadion keines weiteren Blickes mehr.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.