Ein Hauch von Retro

Im Theater setzt man auf digitale Games - das erinnert an frühe Computerzeiten und Brettspiele

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Pandemiezeit ist auch Brettspielzeit. Ganz konsequent also, dass Performancekünstler*innen, die derzeit nicht in analogen Räumen leiblich auftreten und dabei mit Publikum interagieren können, auf solche Retroformen des menschlichen Spieltriebs zurückgreifen. Drei Spielteams gibt es bei »Anna Kpok und die Dinge aus einer anderen Zeit« der Performancegruppe Anna Kpok. Statt am großen Eichentisch im Salon - oder wahlweise der ausgebauten und auf Malerböcke gelegten Zimmertür - versammeln sich die Spieler*innen als Videokonferenzkacheln auf der Plattform Zoom. Nicht alle, die sich vormerken ließen, loggten sich ein. Das kennt man von analogen Spieleabenden auch, als der einen plötzlich doch noch eine Party attraktiver erschien, für einen anderen der von den Wetterdiensten avisierte Schneefall die Winterdienstbereitschaft in den echten Schneepflugjob verwandelte oder unerwartet einsetzende Examensangst für eine Büffelnacht statt einer Spieleorgie sorgte.

Etwas retro wirkt auch, dass die grafische Ebene auf DOS-Format reduziert ist. Damals wurden Grafiken aus Buchstaben und Ziffern gebastelt und Befehle wie copy, open oder quit in die Kommandozeile eingetippt. »Anna Kpok und die Dinge aus einer anderen Zeit« ist optisch also ein Ausflug in die Urgründe des Digitalzeitalters. Das Spiel selbst entwickelt sich über Textbausteine und Entscheidungssituationen. Auf dem schwarzen Bildschirm erscheinen weiße Buchstaben, die Worte lockten in so unterschiedliche Gegebenheiten wie Schlaglöcher, düstere Keller und enge Türme. Die visuelle Reduktion führte zu jener Art Fantasiestimulation, wie sie auch des Lesens Kundige kennen. Da ist nichts außer ein paar Buchstaben - und doch eröffnen sich andere, teils fantastische, teils furchterregende Welten. Die Qualität des Erlebnisses ist direkt mit dem Reichtum des eigenen Vorstellungsvermögens gekoppelt und auch mit der Art und Weise, in der die einzelnen Spielgruppen über Entscheidungen debattieren. Wird man sich schnell einig, durch welche Tür es jetzt gehen oder welches Objekt eingesammelt werden soll? Oder werden die Alternativen ausführlicher diskutiert - und damit die Spielumgebung noch plastischer, noch bizarrer, noch reizvoller?

Das Gelingen des Abends hängt elementar von den Spielenden selbst ab. Für Spielegemeinschaften alter Couleur wie für zeitgenössische Gaming Communities ist dies ein alter Hut, für Theater- und Performance aber eine sinnvolle Erinnerung. Der Ausflug ins Spielen auf Distanz macht die Reize, die in der Umwandlung rein passiver Konsument*innen in zumindest partiell aktive Mitgestalter*innen liegen, stärker deutlich, als es die oft missglückten Partizipationsformate im analogen Raum vermochten. Denn die digitale Verknüpfung der Einzelnen bietet eine reichere Mischung aus Distanz und Intimität, als es klassische Theaterräume ermöglichen. In letzteren ist der Partizipierende omnipräsent, wenn er plötzlich herausgehoben wird aus einer dunklen Masse und im grell aufscheinenden Bühnenlicht meist unterhalb der für sich in Anspruch genommenen Intelligenz und ohnehin tapsiger als selbst schon vermutet agiert.

Umschifft werden auch jene Klippen, an denen Teilnehmer*innen von oft gut gemeinten, oft mindestens halb missglückten Partizipationsformaten aufschlagen, weil ihnen die Interaktions- und Entscheidungsofferten entweder zu banal und unterkomplex erscheinen oder das chaotische Herumwuseln aller bar jeder ästhetischen Qualität ist. Onlinespielformate wie eben dieses von Anna Kpok kreieren Näheräume, in die man sich gern begibt, die die Nähe aber eben auch wieder auf jener beruhigenden Distanz halten, die zwischen den physischen Standorten der Computer besteht. In diesem Sinne hat die Pandemie tatsächlich zu einer Entdeckung oder eher Wiederentdeckung alternativer Spielräume des Theaters geführt.

Das Spiel mit der Dingesucherin Anna Kpok hatte zudem den Reiz, dass es lokale Gegebenheiten der Produktionsstätten Ringlokschuppen Mülheim und Schaubude Berlin mit Giovanni Boccaccios Florenz aus der Zeit der Pest verknüpfte.

Nächste Termine (online): 6. und 7. Februar

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