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Notwendigkeit oder Ablass?
Um die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen, kalkulieren Politik, Wirtschaft und auch der Weltklimarat zunehmend mit Negativemissionen.
Die EU strebt an, bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral zu sein. Das hieße, binnen 30 Jahren unsere Treibhausgasemissionen auf Null zu reduzieren. Doch es gibt noch eine Hintertür: Für besonders kohlendioxidintensive Sektoren wie Zement- oder Stahlindustrie ist ein Restbudget vorgesehen, das sogenannte Negativemissionen ausgleichen sollen. Da sich aber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft viel zu langsam bewegen, wird der Ruf danach immer lauter.
Doch was sind Negativemissionen überhaupt? Die Natur macht es uns seit Jahrtausenden vor: Pflanzen nehmen aus der Atmosphäre Kohlendioxid (CO2) auf und verwandeln es mittels Photosynthese in Biomasse. Darin bleibt der Kohlenstoff gespeichert, bis sie absterben und zersetzt werden. Auch in Mooren bleiben organische Reste unter Luftabschluss oft über lange Zeiträume erhalten, wenn der Mensch nicht eingreift. Diskutiert werden deshalb großflächige Aufforstungen und die Wiedervernässung von Mooren.
Wenn Gestein verwittert, entzieht es der Atmosphäre ebenfalls CO2. Dies dauert natürlicherweise viele Jahre, weshalb in Fachkreisen eine künstliche Beschleunigung diskutiert wird. Ebenso im Gespräch ist eine Direktabscheidung von CO2 in der Industrie und seine Verpressung im Meeresboden oder in unterirdischen Reservoirs (DACCS) sowie der Anbau rasch wachsender Energiepflanzen. Das bei ihrer Verbrennung entstehende CO2 soll ebenfalls abgeschieden und eingelagert werden (BECCS). Letzteres wird jedoch noch nicht praktiziert.
Mehr Wald
Wie viel Wald verträgt sich mit anderen Nutzungen? Jean-François Bastin von der ETH Zürich und Kolleg*innen kommen in einer 2019 im Fachblatt »Science« publizierten Studie zu dem Ergebnis, dass weltweit rund drei Billionen Bäume auf 0,9 Milliarden Hektar degradierter Flächen gepflanzt werden könnten. Bis 2050 könnten sie Atmosphäre und Meeren rund 205 Gigatonnen (Gt) CO2 entziehen - etwa ein Drittel des derzeitigen CO2-Überschusses in der Atmosphäre. Die Zahlen seien jedoch mit hohen Unsicherheiten behaftet. Und es »geht nur, wenn die entsprechenden Ökosysteme diverse, gesunde Wälder sind, keine Monokulturen«, so Crowther.
Derzeit nehmen die Waldflächen vielerorts ab statt zu. Lang anhaltende Dürren und Landumnutzung verursachten in Brasilien, Australien und Kalifornien verheerende Brände. In Südostasien werden seit Jahren Sumpfwälder trockengelegt, verbrannt und durch Palmölplantagen ersetzt, wobei gewaltige Mengen CO2 entweichen. Das italienische Forscherteam um Guido Ceccherini konstatierte 2020 im Fachjournal »Nature« auch eine verstärkte Abholzung europäischer Wälder. Im Zeitraum von 2016 bis 2018 seien rund 50 Prozent mehr gefällt worden als von 2011 bis 2015. »Wenn diese Entwicklung sich fortsetzt, wird das die Pläne der EU einer waldgetriebenen Klimapolitik für die Zeit nach 2020 erschweren. Weitere Verluste gebundenem Kohlenstoffs würden zusätzliche Reduktionen in anderen Sektoren notwendig machen, um bis 2050 die Klimaneutralität zu erreichen«, schreiben die Autor*innen.
Energiepflanzen aus dem Moor
Durch Wiedervernässung verwandeln sich ehemalige Moore wieder in Kohlenstoffsenken. Der Preis dafür ist der Verlust landwirtschaftlicher Flächen. Stattdessen könnten dort aber nässeliebende Energiepflanzen wachsen: In einem kürzlich im »Journal of Environmental Management« erschienenen Literaturreview untersuchen niederländische und schwedische Forscher*innen, wie sich der Anbau der Schilfart Phragmites australis und des Breitblättrigen Rohrkolbens auf den Treibhausgasausstoß wiedervernässter Mooren auswirkt, wie viel Biomasse sie produzieren und wie viel erneuerbarer Kraftstoff bei ihrer Vergärung entsteht.
»Die Ergebnisse zeigen, dass die Wiedervernässung von Mooren ein wichtiges Instrument dafür sein kann, das Erderwärmungspotenzial zu senken«, schreiben Mireille Martens von der University of Applied Sciences in Vlissingen und ihr Team. Die Wiedervernässung eines Quadratkilometers Moor würde die jährlichen Emissionen von 2600 benzinbetriebenen Durchschnittsautos einsparen. Dabei senkt Schilf die Emissionen stärker als Rohrkolben, während ihre Biomasse- und Biomethanproduktion pro Fläche vergleichbar groß sind.
Unterirdische CO2-Speicher
Besondere Bedeutung messen viele Klimaschutzszenarien der BECCS-Technologie zu. Anders als bei der sehr energieaufwendigen und teuren Direktabscheidung von CO2 aus der Luft und dessen Verwahrung in unterirdischen Reservoirs sollen sich dabei schnell wachsende Pflanzen wie Rutenhirse, Zuckerrohr, Pappeln oder Eukalyptus das CO2 selbst aus der Atmosphäre holen und in Biomasse anlegen.
In einer im November 2020 in der Fachzeitschrift »Nature Climate Change« veröffentlichten Studie berechnen Steef Hannsen von der Radboud University Nijmegen und Team das globale Potenzial dieser Technologie. Während BECCS in einem Zeitraum von 30 Jahren noch kaum positive Effekte erziele, könne es in 80 Jahren mit bis zu 61 000 Terawattstunden pro Jahr knapp 38 Prozent des globalen Energiebedarfs decken und mit 40 Gt CO2 pro Jahr alle 2019 entstandenen Treibhausgasemissionen binden. Der dafür anvisierte Flächenverbrauch wäre jedoch immens, wichtige natürliche Ökosysteme wie Wälder und Grasland würden zerstört. »Die Auswirkungen auf das Erdsystem können gravierend sein, wenn BECCS auf großen Flächen durchgeführt wird, warnt Julia Pongratz, Professorin für Physische Geographie und Landnutzungssysteme an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bereits jetzt beeinträchtige die Erweiterung landwirtschaftlicher Flächen die Biodiversität, global gesehen, weit mehr als der Klimawandel.
Grüne Strände
Das vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) herausgegebene Magazin «Technology Review» berichtete im Dezember 2020 über erste Versuche mit beschleunigter Gesteinsverwitterung an einem karibischen Strand. Die gemeinnützige Umweltorganisation Project Vesta plane dort gemahlenes Olivin auszubringen. Die Wellen sollen das silikathaltige Mineral zersetzen, wobei CO2 gebunden werde. Da es auch natürliche Olivinsandstrände gibt, werden keine negativen Auswirkungen auf die Umwelt erwartet.
Laut Thorben Amann von der Universität Hamburg fehlen noch großskalige Feldexperimente, um Verwitterungsraten und ihr Potenzial, Kohlenstoff zu binden, insgesamt abschätzen zu können. «Es wird (jedoch) immer deutlicher, dass es nicht die eine ›silver bullet‹ gibt, die das CO2-Problem löst, sondern dass es ein Portfolio aus verschiedenen Ansätzen sein wird, das in der Summe dann ›genug‹ CO2 aus der Atmosphäre entfernen kann», meint er. Interessante Synergien könnte dabei eine Kombination beschleunigter Verwitterung mit pflanzenbasierten Ansätzen schaffen. Das Umweltbundesamt (UBA) kommt in der Abschlussstudie seines interdisziplinären Projekts Rescue aus dem Jahr 2020 zu dem Ergebnis, dass Deutschland seine Klimaziele für 2030 und 2050 durch eine nachhaltige Bewirtschaftung seiner natürlichen Senken ohne eine unterirdische CO2-Speicherung erreichen könne. Voraussetzung dafür sei, die Treibhausgasemissionen bis 2030 gegenüber 1990 um mindestens 70 Prozent zu senken.
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