- Politik
- NS-Verbrechen
Ehemalige KZ-Sekretärin in Schleswig-Holstein angeklagt
Staatsanwaltschaft Itzehoe beschuldigt sie der Mordbeihilfe in mehr als zehntausend Fällen
Itzehoe. Wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord in mehr als zehntausend Fällen hat die Staatsanwaltschaft in Itzehoe in Schleswig-Holstein eine ehemalige Sekretärin des NS-Konzentrationslagers Stutthof angeklagt. Der Frau werde vorgeworfen, als Stenotypistin und Schreibkraft des Lagerkommandanten »den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von jüdischen Gefangenen, polnischen Partisanen und sowjetrussischen Kriegsgefangenen Hilfe geleistet zu haben«, erklärte die Anklagebehörde am Freitag.
Demnach soll die heute 95-jährige Frau zwischen 1943 und 1945 als Sekretärin des Lagerkommandanten gearbeitet haben. Da sie zur Tatzeit jünger als 21 Jahre war, erfolgte die Anklage vor der Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe. Diese muss nun über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung eines Prozesses entscheiden. Wie lange dies dauern wird, war zunächst unklar.
Die Staatsanwaltschaft wirft der Frau darüber hinaus Beihilfe zu versuchtem Mord in einer nicht genannten Zahl von Fällen vor. Dies begründete sie mit dem Zweck von Stutthof, das sich zu einem Vernichtungslager entwickelte, das kein Gefangener überleben sollte. »Soweit einzelne Häftlinge den Aufenthalt in dem Lager trotz der lebensfeindlichen Bedingungen überlebten, ist ein Teil der Taten juristisch als Versuch zu bewerten.«
In den vergangenen Jahren hatte es in Deutschland noch einmal eine ganze Reihe von Anklagen und Prozessen gegen ehemalige Angehörige der Wach- und Verwaltungsmannschaften der beiden Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und Stutthof gegeben. Zuletzt verurteilte das Landgericht in Hamburg im Juli 2020 einen 93-jährigen früheren Stutthof-Wachmann wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe nach Jugendstrafrecht. Das Urteil ist inzwischen rechtskräftig.
Im Lager Stutthof bei Danzig hatte die SS im Zweiten Weltkrieg mehr als hunderttausend Menschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten, darunter viele Juden. Etwa 65.000 Menschen starben. Stutthof war als Lager berüchtigt für die absichtlich völlig unzureichende Versorgung und lebensfeindliche Zustände. Die meisten Gefangenen starben an Krankheiten und Entkräftung.
Eine Strafverfolgung wegen NS-Verbrechen ist in Deutschland nur noch wegen Mordes oder Beihilfe dazu möglich, andere denkbare Vorwürfe sind verjährt. Der Wachdienst in einem Konzentrationslager allein reicht nicht aus. Nur bei Todes- und Vernichtungslagern, deren Zweck die systematische Tötung aller Gefangenen war, gilt nach deutscher Rechtsprechung bereits die reine Zugehörigkeit zur Wachmannschaft als Beihilfe zum Mord. Eine direkte Beteiligung an Tötungen ist nicht nötig.
Der Anklageerhebung vorausgegangen war nach Angaben eines Sprechers der Staatsanwaltschaft ein aufwändiges längeres Ermittlungsverfahren. Dafür seien unter anderem Zeugen in den USA und Israel befragt worden. Auch ein Historiker wurde beauftragt, um mehr Informationen über die Funktion der Beschuldigten innerhalb der Lagerverwaltung zu erhalten.
Die »konkrete Verantwortung« könne aber erst im Rahmen einer gerichtlichen Beweisaufnahme juristisch geklärt werden, betonte der Sprecher am Freitag in Itzehoe. Die Staatsanwaltschaft gehe derzeit davon aus, dass die Angeklagte verhandlungsfähig sei. AFP/nd
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!