Tote gegen Tote

Warum wird der Trauer um Corona-Opfer aggressiv begegnet?

  • Mira Landwehr
  • Lesedauer: 5 Min.

Corona-Tote sichtbar machen: In Berlin, Recklinghausen, Hamburg, Bad Kreuznach, Zürich, Linz, auf La Palma und in vielen weiteren Städten haben sich seit Anfang Dezember zahlreiche Menschen einer von der Künstlerin Veronika Radulovic und dem Schriftsteller Christian Y. Schmidt gegründeten Initiative angeschlossen. Jeweils sonntags zum Sonnenuntergang stellen sie Kerzen zum Gedenken an die vielen Toten auf, die am Coronavirus gestorben sind.

Die Kerzen sollen ein Zeichen setzen gegen die Anonymität und gegen das Schweigen. Denn die Toten kommen in den Medien bisher überwiegend abstrakt als Zahlen in einer Statistik vor. In knappen Worten werden »die Zahlen« mit weniger Emotion verlesen als die Lottoergebnisse. Und je mehr es werden, desto stiller wird es in den Medien - die Gesamtzahl der Gestorbenen muss man inzwischen immer öfter selbst recherchieren, sofern nicht gerade eine berichtenswerte traurige neue Anzahl erreicht ist.

Einige Initiator*innen der Initiative berichten inzwischen davon, dass die Gedenkorte mutwillig beschädigt werden. Manche erhielten Nachrichten oder Kommentare auf Facebook, wo die Initiative ebenfalls unter dem Namen und dem Hashtag CoronaToteSichtbarMachen aktiv ist und zur Vernetzung und zum Mitmachen einlädt.

Was stört die Störer*innen am stillen Gedenken? »Ist eigentlich nett gemeint, aber wer gedenkt der an Krebs Gestorbenen? […] Vielleicht sollte man lieber für all die Kinder auf die Straße gehen, die gerade sozial abgehängt werden, […] für all die Frauen, die wegen des Lockdowns Gewalt erfahren, für all die Menschen, die durch den Lockdown verarmen«, schrieb jemand auf Facebook. Eine andere Person hinterließ an einem der Gedenkorte einen Zettel mit folgender Botschaft: »240 000 Krebstote hingegen finden wir nicht entsetzlich. Obwohl es sie jedes Jahr gibt. Zumindest gedenken wir ihrer nicht.«

An jedem 1. Oktober findet mit den »Lichtern gegen Brustkrebs« ein Gedenken an all jene Frauen statt, die jedes Jahr an Brustkrebs sterben. Jährlich am zweiten Sonntag im Dezember wird der Kinder und jungen Erwachsenen gedacht, die so früh gestorben sind. Am 15. Februar, dem internationalen Kinderkrebstag, machen Vereine und Stiftungen jedes Jahr auf die an Krebs erkrankten und an Krebs gestorbenen Kinder aufmerksam. Es existieren zahlreiche Gedenktage und Gedenkmonate für die vielen Menschen, die einer Krebserkrankung erlegen sind. Dies lässt sich leicht googeln. Die Behauptung der Störer*innen, dieser Toten würde überhaupt nicht gedacht, ist unzutreffend.

Die Zeit, die die Störer*innen investiert haben, um die Zahl der Menschen zu recherchieren, die jährlich an Krebs sterben plus die Zeit, die sie aufgewendet haben, um ihre Gedanken niederzuschreiben und ein laminiertes Stück Papier zu einem Gedenkort für die Corona-Toten zu bringen, hätten sie aufwenden können, um einen eigenen Gedenkort für die Krebstoten zu schaffen, wenn diesen ihr besonderes Mitgefühl gilt. Oder sie hätten ein Projekt für bedürftige Familien unterstützen können. Oder warme Handschuhe für Obdachlose stricken. Oder die gesellschaftlichen Ursachen des Gesamtelends bekämpfen, das sie beklagen. Denn das war ja schon lange vor Corona da; die Pandemie verschärft es zusätzlich. Und woher nehmen die Störer*innen die Gewissheit, dass diejenigen, die der Corona-Toten gedenken, sich darüber hinaus nicht ebenso in anderen Bereichen engagieren? Und tun die Störer*innen dies jemals selbst?

Sie spielen Tote gegen Tote aus. 240 000 Krebstote. Diese wirklich erschreckend hohe Zahl zu notieren und den »nur« 66 000 Corona-Toten (Stand: 18.2.2021) gegenüberzustellen, ist perfide. Es gibt zudem einen Unterschied: Nahezu sämtliche Corona-Tote in Deutschland hätte man verhindern können, hätte der Westen nicht das lebensverachtende Motto »Leben mit dem Virus« als Strategie gewählt und hätte man die kolonialrassistisch bedingte Begriffsstutzigkeit überwunden und von den südostasiatischen Erfolgen bei der Pandemiebekämpfung gelernt.

Gewiss, auch viele Krebstote, jedoch wohl nicht alle, ließen sich vermeiden durch bessere Gesundheitsvorsorge, Aufklärung und vor allem gesündere Lebensumstände für alle (mehr freie Zeit und Abschaffung der Lohnarbeit könnten für den Anfang schon viel dazu beitragen). Woher kommt der Drang, die Toten gegeneinander aufzurechnen? Was sind die Motive der Störer*innen? Um Empathie mit den angeblich zu wenig beachteten Opfern scheint es nicht oder höchstens am Rande zu gehen.

Die Instrumentalisierung kaschiert in erster Linie eines: die Konstruktion der eigenen, als von Empathie geprägt wahrgenommenen Identität, indem man anderen empathisches Vermögen abspricht. Denn die Störer*innen kommen gar nicht auf die Idee, mit eigenen Aktionen Krebstote sichtbarer zu machen, ja, sie wissen noch nicht einmal, dass es zahlreiche Gedenktage zu deren Erinnerung gibt. Ihnen geht es auch nicht darum, einen anderen Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod zu etablieren. Sie verlangen dies von anderen (»man sollte«) und werfen anderen Untätigkeit vor (»ihr gedenkt ihrer nicht«).

Weil der an Krebs Gestorbenen und der Bedürftigen nicht oder nicht genügend gedacht wird, und sie aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden, braucht man auch um niemand sonst zu trauern, kann man sich das Mitgefühl gleich ganz sparen. Der Mangel an Empathie und Solidarität, den die Störer*innen anderen unterstellen, ist ihr eigener. Das Nicht-sehen-Wollen und Beschweigen der Corona-Toten dient ihnen zur Legitimation, diejenigen, die dennoch versuchen, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen, zu belehren und zurechtzuweisen. Es betrifft sie nicht - und zwar gleich doppelt: »Ich bin persönlich nicht davon betroffen, und es macht mich auch nicht betroffen.« Wenn es nach ihnen geht, soll sich die Welt gar nicht zum Erträglicheren bessern - dass kein Mensch mehr unnötig leiden und sterben muss -, damit die moralinsauren Störer*innen nur weiter stören können.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -