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»Wenn sie tot sind, gibt es neue«
Zwangsarbeit und Hitlertreue: Continental im Nationalsozialismus.
Es war ein äußerst dringliches Schreiben, das 16 ehemalige KZ-Insassen und Zwangsarbeiter der Continental Gummi-Werke AG im Herbst 1946 an die britische Militärregierung richteten. Wie auch der neue Betriebsrat protestierten sie darin »im Namen der 850 toten Kameraden, die bei der Conti-Arbeit durch Prügel, Hunger und andere Quälereien ermordet wurden«, gegen die Wiedereinsetzung des Betriebsführers, Fritz Könecke, sowie des nahezu gesamten früheren »Nazi-Vorstands« des Konzerns durch die zuständige Besatzungsmacht.
Rein personell war ihre Intervention von Erfolg gekrönt. Auch wenn letztlich keiner der Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurde - Könecke selbst avancierte gar von 1953 bis 1960 zum Vorstandsvorsitzenden bei Daimler-Benz -, fand doch ein totaler Austausch der Führungsebene des Konzerns statt. Jenseits dessen aber wurde einfach weitergemacht - wie in fast allen deutschen Großunternehmen. Durch das Vorrücken von Protagonisten aus der bisher zweiten Leitungsebene wurde »faktisch eine starke Kontinuität« gewährleistet, die auch die »von der NS-Zeit geprägte Unternehmenskultur« mit einschloss, so der Historiker Paul Erker in seiner gerade erschienenen Studie zum »Continental-Konzern in der NS-Zeit«. Dazu gehörte auch, dass dieser, trotz der zeitweisen Rückstellung von zehn Millionen D-Mark, letztlich keinerlei Entschädigungen an die von ihm ausgebeuteten Zwangsarbeiter zahlen musste.
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs formulierte Max Horkheimer sein berühmtestes Diktum: Wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch zum Faschismus schweigen. In der Nachkriegs-Bundesrepublik hat sich das lange in negativer Form bestätigt. Dies galt auch und vor allem für die Verstrickungen der auch nach dem Krieg die Wirtschaft dominierenden Unternehmer in die nationalsozialistischen Verbrechen. Als »Geschichte einer Verdrängung« hat Sebastian Brünger diesen Umgang in seiner maßgeblichen Studie über den »Umgang deutscher Konzerne mit ihrer NS-Vergangenheit« noch vor wenigen Jahren bezeichnet.
Eine erste öffentliche Debatte in der Bonner Republik wurde erst 1970 durch das Buch des DDR-Historikers Eberhard Czichon über die Deutsche Bank ausgelöst. An der Person ihres Vorstandsvorsitzenden Hermann Josef Abs zeigte Czichon damals das skrupellose Profitieren von der Expansionspolitik der Nazis auf; das Buch wurde allerdings in der Bundesrepublik erfolgreich juristisch angefochten. Jedenfalls dauerte es noch weitere eineinhalb Jahrzehnte, bis sich die deutschen Konzerne zumindest in Ansätzen gezwungen sahen, sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Und wieder kam der Impuls von außen. In Hamburg waren Mitarbeiter der neuen Stiftung für Sozialgeschichte auf die Übersetzung des teils in US-Archiven verschollenen Omgus-Reports (»Office of Military Government for Germany, US«) der US-Militärregierung in Deutschland gestoßen. Anhand der Geschichten der Deutschen Bank und der Daimler AG zeigten die Autoren um Karl-Heinz Roth, wie die deutschen Unternehmen von Zwangsarbeit, Kriegswirtschaft und Arisierungen profitiert und welch »technokratischen Umgang mit Menschenleben« sie dabei an den Tag gelegt hatten.
Angesichts eines vor allem im Ausland entstehenden Drucks sahen sich die großen Konzerne nun gezwungen, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Den Anfang machte VW 1986. In Wolfsburg beauftragte man den Historiker Hans Mommsen mit einer unabhängigen Untersuchung über die etwa 12 000 Zwangsarbeiter in dem Werk. Der »generationelle Wandel« (Brünger) an den Konzernspitzen, das Ende des Kalten Krieges und nicht zuletzt das Wissen um kaum noch lebende ehemalige Opfer und damit die geringere Angst vor Schadensersatzforderungen, die schließlich im Jahr 2000 durch die mit zehn Milliarden D-Mark ausgestattete Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« pauschal und zu relativ geringen Kosten abgelöst wurden, führten dann seit Mitte der 1990er Jahre zu einem wahren Boom von Studien.
Während in einigen von ihnen eine seriöse monografische Aufarbeitung erfolgte – etwa im Falle von VW, Daimler, Dr. Oetker, C&A, Beiersdorf oder aber durch Constanze Werners umfangreiche Studie über BMW –, haben andere wie Adidas oder Merck lediglich kleinere Kapitel in ihre Konzerngeschichten eingefügt. Von Siemens, Bayer und Henkel dagegen liegt bis heute nichts vor. Man wird gespannt sein dürfen, ob und wann dies nachgeholt werden wird. Das Gesamtbild allerdings ist längst deutlich. Adam Tooze hat es in seiner »Ökonomie der Zerstörung« auf den Punkt gebracht: »Ob das Autarkieprogramm, die Aufrüstung oder sogar die große Zahl an neuen Überwachungsbehörden, alles fand den Beifall und die tatkräftige Unterstützung von erfahrenen Firmenchefs, deren Fachwissen dem Regime mit freundlicher Genehmigung der gesamten deutschen Industrie zur Verfügung gestellt wurde.« Und verdient haben sie gut dabei. Axel Berger
Schon dies mag bezeugen, was Erker zur Rolle des Hannoveraner Unternehmens schreibt. Lange Zeit, so Erker, habe sich Continental »vor einer wirklichen Analyse seiner Rolle in der NS-Zeit gedrückt«. »Zulieferer für Hitlers Krieg«, so der Titel der über 850 Seiten starken Monografie, schließt nun diese Lücke. Den Auftrag dazu erhielt der Münchner Historiker, der auch schon die Unternehmensgeschichten von Bosch, Jägermeister und der Reimann-Familie verfasst hat, vom Vorstand des mit einem Jahresumsatz von über 44 Milliarden Euro zweitgrößten Automobilzulieferers der Welt. Im Vorfeld des 150-jährigen Firmenjubiläums im kommenden Jahr und 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es offenbar Zeit, das »dunkelste Kapitel der Unternehmensgeschichte«, so der Vorstandsvorsitzende Elmar Degenhart anlässlich der Vorstellung der Studie, aufarbeiten zu lassen. »Als einer der letzten - aber bei weitem nicht der letzte - Dax-Konzerne stellt sich Continental daher nun seiner Geschichte in der NS-Zeit«, schreibt Erker mit Blick etwa auf Siemens, Henkel oder Bayer.
Viel Neues zur NS-Industriepolitik, den Verstrickungen der deutschen Industriellen in die Machtübertragung an die deutschen Faschisten oder die Verbrechen des Regimes wird man nicht erwarten können. Dies ist in Dutzenden wenn nicht Hunderten Studien längst umfassend erforscht worden. Und dennoch bleibt der Blick auf die einzelnen Unternehmen nach wie vor von einigem Interesse, zeigt er doch häufig die Bedeutung einzelner Wirtschaftssubjekte in Bezug auf die Sicherung des Regimes in den ersten Jahren und die spätere Funktionsfähigkeit der Kriegswirtschaft. Dies gilt im Besonderen auch für Continental. Ein Verdienst Erkers besteht hier darin, sich nicht nur auf den Mutterkonzern zu beschränken, sondern auch die später übernommenen Unternehmen Teves, Phönix, Semperit und VDO in die Darstellung zu integrieren und so eine übergreifende Branchenbetrachtung entstehen zu lassen. Von einem »virtuellen Konzern« spricht der Autor, der vor allem in den Firmenarchiven und diversen Korrespondenzen eine schier unglaubliche Masse neuer Quellen erstmals erschlossen hat, in diesem Zusammenhang.
Vor allem bei Continental handelte es sich um einen »NS-Musterbetrieb«. Euphorisch habe der Vorstand um Generaldirektor Willy Tischbein die NS-Machtergreifung begrüßt, so Erker. Nicht nur seien sofort danach »sämtliche Vorstandskollegen sowie die Prokuristen beziehungsweise Direktoren der zweiten Führungsebene zum sofortigen Eintritt in die NSDAP« verpflichtet, der Betriebsrat von »Regimegegnern« gesäubert und in den ersten beiden Jahren etwa eine Million Reichsmark an diverse NS-Organisationen gespendet, sondern auch alle jüdischen Aufsichtsratsmitglieder zum Rücktritt gezwungen worden. Stolz konnte der Vorstand bereits Ende 1933 verkünden, Continental sei nun »ein christliches und rein deutsches Unternehmen«. Erker konstatiert hier eine »in kürzester Zeit verwirklichte Kongruenz und Komplementarität der Interessen des Unternehmens und des NS-Regimes«, die bis 1945 andauern sollte.
Vor allem nach Beginn des Krieges verstärkte sich diese Tendenz noch, auch weil gigantische Profite winkten. Innerhalb kürzester Zeit habe sich der virtuelle Konzern zu einem zentralen »Rückgrat« der deutschen Kriegswirtschaft entwickelt. »Continental war im Bereich der Auto- und Flugzeugreifen sowie Gleiskettenpolster für Panzer, aber auch bei technischen Schläuchen, hydraulischen Bremsen, Präzisionssteuerungs-, Kontroll- und Messinstrumenten für V-1-Marschflugkörper, Panzer und Geschütze einer der wichtigsten Zulieferkonzerne des Dritten Reichs«, schreibt Erker. Dazu sei später noch die Herstellung von Millionen von Volksgasmasken und Sohlen für Wehrmachtsstiefel gekommen.
Gewährleistet wurde dies nicht zuletzt durch den Einsatz von etwa 10 000 Zwangsarbeitern. In rassistischer Manier fand auch bei Conti eine rigide Abstufung der Ausgebeuteten statt: Während etwa französische oder italienische Kriegsgefangene in ein »ziviles Arbeitsverhältnis« übernommen werden konnten, galt dies für die Angehörigen der Roten Armee nicht. Eingesetzt vor allem in den Rohbetreiben, mussten Tausende von ihnen zwölf Stunden unter unmenschlichsten Umständen arbeiten. »Wenn sie tot sind, gibt’s neue«, zitierten bei den späteren Untersuchungen deutsche Conti-Beschäftigte das für den Einsatz zuständige Vorstandsmitglied Hans Odenwald. In den letzten Kriegsjahren waren dann schließlich die Betriebe auch »in das von der SS betriebene verbrecherische System der ökonomischen Instrumentalisierung der Konzentrationslager« vollends eingebunden, so Erker. Rund 500 weibliche Häftlinge mussten etwa im Werk Limmer in Zwölf-Stunden-Schichten und unter erbärmlichen Bedingungen Gasmasken für Continental fertigen.
Insbesondere für die Überlebenden unter ihnen kommt die vom Konzern in Auftrag gegebene »Selbstreflexion und Selbstvergewisserung des Unternehmens über die eigenen Verstrickungen in das Unrecht der NS-Zeit«, der sich Erker verschrieben hat, zu spät. Man wird gespannt sein dürfen, welche Lehren unternehmensintern daraus gezogen werden und wie sich die Berücksichtigung der Ergebnisse »als Teil der Unternehmensstrategie«, so Vorstandvorsitzender Degenhart, zukünftig niederschlagen wird.
Paul Erker: Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit, Berlin / Boston 2020 (De Gruyter Oldenbourg); 867 S.; 49,95 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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