Mehr schwere Verläufe, mehr Todesfälle

Nicht nur in Deutschland bleiben Menschen mit leichten Infarkten und Schlaganfallsymptomen den Krankenhäusern fern

  • Eric Breitinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Im ersten Lockdown im März und April 2020 mieden weltweit etwa ein Drittel aller Notfallpatienten mit Symptomen eines akuten Herzinfarkts oder Schlaganfalls die Krankenhäuser. So wurden in zahlreichen Ländern mehr als ein Drittel weniger Herzinfarktpatienten ins Krankenhaus eingeliefert als im Vorjahreszeitraum. Laut dem Wissenschaftlichen Institut der AOK in Berlin ließen sich 28 Prozent weniger AOK-Patienten mit Herzinfarktsymptomen in deutschen Kliniken behandeln als im Vorjahreszeitraum. In England und Österreich gingen die stationäre Aufnahmen aus diesem Grund um jeweils 40 Prozent und in Italien um 48 Prozent zurück.

Die Zahl der stationär behandelten Notfälle von Schlaganfallpatienten sank in den ersten drei Monaten der Pandemie weltweit um 13 bis 29 Prozent gegenüber den vorherigen drei Monaten. Das ergab eine noch nicht veröffentlichte Auswertung von Daten aus 40 Ländern auf sechs Kontinenten. Demnach gingen die Schlaganfalltherapien in Afrika um 48 Prozent und in Nordamerika um 21 Prozent zurück. In Asien sanken die Behandlungszahlen um 20 Prozent, in Südamerika um 16 Prozent, in Ozeanien um zwölf Prozent und in Europa um elf Prozent. In Deutschland belief sich der Rückgang der Schlaganfallpatienten in den Krankenhäusern auf 15 Prozent. Das errechneten Forscher des Wissenschaftlichen Instituts der AOK in Berlin. Für die Schweiz schätzen Neurologen des Berner Inselspitals den Rückgang auf fünf bis 10 Prozent.

Für die meisten Experten steht fest, dass vor allem Notfallpatienten mit leichteren Beschwerden während der Hochphase der Pandemie den Anruf beim Notdienst oder die Einlieferung ins Krankenhaus hinauszögerten oder aufschoben. Ein Hauptgrund für dieses Verhalten war nach Einschätzung der Ärzte die Angst vieler Patienten vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. In Deutschland ließen sich im Frühjahr 2020 daher laut dem Wissenschaftlichen Institut der AOK 35 Prozent weniger Patienten wegen einer transitorisch ischämischen Attacke (TIA)behandeln als im Vorjahr. Bei dieser leichteren Form des Schlaganfalls kommt es für höchstens 24 Stunden zu Symptomen. Die Kehrseite davon: Im Spital landeten mehr schwere Fälle, also Patienten, die einen Hirninfarkt, eine Hirnblutung oder eine kompletten Verschluss eines großen Herzkranzgefäßes erlitten hatten. Das Wissenschaftliche Institut der AOK stellte fest: Schlaganfallpatienten, die in der ersten Lockdownphase ins Krankenhaus kamen, wiesen überdurchschnittlich häufig halbseitige Lähmungen, Sprechstörungen sowie Schluckbeschwerden auf. Die Forscher registrierten zudem eine leichte Zunahme von Todesfällen in den ersten 30 Tagen nach dem Schlaganfall im Vergleich zum Vorjahr.

Für Experten ist das kein Wunder. Der Schlaganfallspezialist des Berner Inselspitals, Urs Fischer, betont, dass die Nichtbehandlung eines Schlaganfalls »zu Behinderung und Tod« führen könne. Gleichzeitig erhöhte sich »das Risiko eines erneuten Hirnschlages deutlich.« Auch Michael Billinger, Chefarzt der Kardiologie des Inselspitals, sagt, dass bei unbehandelten Herzinfarkten ein größerer Herzschaden mit den Langzeitfolgen einer Herzschwäche eintreten könne, außerdem steige das Risiko eines erneuten Herzinfarkts oder eines plötzlichen Herztodes. Der Innsbrucker Kardiologe Bernhard Metzler schätzte in seiner im Fachmagazin »European Heart Journal« veröffentlichten Studie, dass während des Lockdowns im März 2020 in Österreich wegen vieler unbehandelter Fälle bis zu 110 Herzinfarktpatienten zusätzlich gestorben seien.

Die Gesundheitsbehörden in Deutschland und Österreich reagierten bisher nur zögerlich auf solche Veröffentlichungen. Die österreichische Bundesregierung ergriff keine Maßnahmen, kritisiert Kardiologe Metzler, der an der Universitätsklinik Innsbruck tätig ist. Im Gegensatz zum ersten Lockdown im März blieb jedoch die Herzabteilung seiner Klinik seitdem für Notfallpatienten uneingeschränkt geöffnet.

Ein ähnliches Bild zeigt sich in Deutschland: Der Sprecher des Wissenschaftlichen Instituts der AOK betont, dass die Allgemeinen Ortskrankenkassen in ihrer Pressearbeit über das Thema informiert hätten. Behördliche Maßnahmen seien nicht bekannt. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums betont auf Anfrage von »nd.DerTag«, dass »die Notfallversorgung akuter kardiovaskulärer Erkrankungen nach Aussagen der Fachgesellschaften zu jeder Zeit gewährleistet« war und dies auch weiterhin sei. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn habe zum Beispiel im Mai per Twitter an betroffene Patienten appelliert, »bei Beschwerden eine Praxis und im Notfall ein Krankenhaus aufzusuchen«. Ob das gereicht hat, werden weitere Behandlungsdaten zeigen.

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