Visionär eines machtfreien Miteinanders

Michail Gorbatschow, der verspätete Reformer der Sowjetunion, wird 90

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Als 1987 auch in der DDR Michail Gorbatschows Buch »Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt« erschien, war dies tatsächlich so, als habe jemand die Fenster aufgestoßen. Eine befreiende Ahnung von etwas Neuem kam über uns, wie es sich dann am 4. November 1989 bei der Massendemonstration zum Berliner Alexanderplatz zu realisieren schien.

Was in diesem Buch zu lesen war, schien ungeheuerlich. Zehn Jahre zuvor war Rudolf Bahro in der DDR für sein Buch »Die Alternative« zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Die unmissverständliche Botschaft: Das blüht allen Reformisten und Revisionisten im Staate, die laut über gesellschaftliche Alternativen nachdenken.

Doch im März 1985 kam die Hoffnung zurück. Nach drei Greisen an der Spitze der KPdSU (Breschnew, Andropow, Tschernenko) trat ein fast noch jugendlicher Mittfünfziger an die Spitze der KPdSU. Es war wohl die schwere Krise des Landes, die das möglich machte. Der Kalte Krieg stand - nach dem Nato-Doppelbeschluss - an der Grenze zum heißen Atomkrieg. Westlich der Elbe zeigten US-amerikanische Pershing-Mittelstreckenraketen nach Osten und östlich der Elbe waren es sowjetische SS-20, die nach Westen zeigten. Ein falscher Knopfdruck hätte die Apokalypse ausgelöst. US-Präsident Ronald Reagan sprach von der Sowjetunion als »Reich des Bösen« und befahl - in einer Radio-Sprechprobe - den Beginn der Bombardierung Russlands. Es gab diverse Pläne für einen nuklearen »Enthauptungsschlag« Moskaus, dazu gehörte die Neutronenbombe und das Weltraumraketenabwehrsystem SDI. Aber auch ohne deren Einsatz war die Sowjetunion kurz davor, totgerüstet zu werden - das Lebensniveau im Land sank rapide.

Doch nun stand an der Spitze der Sowjetunion kein staubtrockener Apparatschik, sondern ein Mensch, der für sich einzunehmen vermochte. Was er über Abrüstung sagte, hörte man in der ganzen Welt. Im Westen vorerst widerstrebend. 1986 wird Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Interview einräumen, der neue Mann im Kreml sei ein »moderner Kommunistenführer«, der die PR-Techniken beherrsche, aber das habe schließlich Goebbels auch getan.

Gleichzeitig gehen die führenden Genossen der »Bruderparteien« auf Distanz zu Gorbatschows Politik der Umgestaltung, also der Entstalinisierung und Demokratisierung. SED-Politbüro-Mitglied und Ideologiechef Kurt Hager antwortet am 9. April 1987 in einem Interview mit dem »Stern« auf die Frage, ob es nun auch in der DDR eine Perestroika geben werde: »Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?« Dieser Tapetenvergleich provozierte im Lande empörte Reaktionen.

Und in der Sowjetunion? Anfangs ist da so etwas wie Euphorie, ein zaghafter Aufbruch aus der allgegenwärtigen Apathie. Woher kommt im graumäusigen Politbüro plötzlich ein so klar denkender und frei sprechender Mensch wie Gorbatschow? Die Szenerie war bereits wohlerprobt: Nach dem Tod von Konstantin Tschernenko am 10. März 1985 rüstet sich die alte Breschnew-Garde, aus der auch Tschernenko kam, für dessen Nachfolge. Sie wollen Viktor Grischin, seit 1967 Moskauer Parteichef, an die Spitze stellen. Schreiben ihm schon seine Rede als neuer Generalsekretär. Doch einer hat etwas dagegen: Außenminister Andrej Gromyko, die graue Eminenz. Ein Deal kommt zustande - Gorbatschow, so heißt es, sichert Gromyko vertraulich zu, dass er dessen Wahl zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets (also quasi zum Präsidenten) unterstützen werde, sollte er selbst Generalsekretär werden. Ein Machtpoker, an dem auch der Geheimdienst KGB beteiligt ist, dessen früherer Chef Juri Andropow der politische Ziehvater Gorbatschows war.

Eine welthistorische Weichenstellung, die am seidenen Faden hängt. Der sowjetische Dramatiker Michail Schatrow fragte 1988 in einem Publikumsgespräch zur Rolle von Einzelpersönlichkeiten in der Geschichte: »Ist es denn kein Unterschied, wer 1985 ans Ruder gekommen ist? Michail Sergejewitsch Gorbatschow oder Viktor Wassiljewitsch Grischin mit seiner Losung: ›Lasst uns Moskau in eine kommunistische Musterstadt verwandeln!‹?«

Mit Gorbatschow vollzieht sich zuallererst eine Revolution des Politikstils. Als der neue Generalsekretär im Mai 1985 nach Leningrad reist und sich dort in eine Menschenmenge begebend frei diskutiert, ist das eine kaum zu glaubende Sensation. Wo doch immer noch der alte Breschnew-Witz kursierte über den Generalsekretär, an dessen Tür es nachts klingelt. Dieser schlurft zur Tür, zieht einen Zettel aus der Tasche des Schlafanzugs und liest vor: »Wer ist da?« Einen solchen Zettel brauchte Gorbatschow nicht. Der Videomitschnitt dieses Auftritts in Leningrad wird dann auf dem Schwarzmarkt für 500 Rubel angeboten - Preise, die sonst nur für Dissidenten gezahlt wurden.

Gorbatschow sieht sich als Aufklärer und Inspirator, nicht als Administrator von oben. Insofern geht der Vorwurf, die Perestroika habe kein Programm gehabt, ins Leere. Denn es galt zuerst, das geistige Leben zu entdogmatisieren und die Gesellschaft zu entbürokratisieren. Dazu bedurfte es einer neuen Mentalität engagierter Bürger. Dass der Schlüssel zum Erfolg der Reform in der Umgestaltung der Wirtschaft liegt, ist ihm bewusst. Wie bereits Andropow griff auch Gorbatschow auf die Erfahrungen der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) zurück, mit denen Bucharin (mit Billigung Lenins) Anfang der 20er Jahre den Kriegskommunismus beendete und eine Mischwirtschaft aus staatlichem, genossenschaftlichem und privatem Eigentum initiierte. Ende der 20er Jahre unterband Stalin die NÖP als »rechte Abweichung«. Nun sollte sie also wiederbelebt werden - doch Marktwirtschaft mitten in der Mangelwirtschaft ließ vorerst allein den Schwarzmarkt blühen.

Das Alkoholverbot, das Gorbatschows sehr bald erließ, war verständlich (der Alkoholismus grassierte) und doch ein Fehler, denn es machte ihn im Volk verhasst. Bei ihm selbst schwand nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl im April 1986 das Vertrauen in die technische Elite. In seinen »Erinnerungen« notiert er, die Havarie habe gezeigt, dass »unsere Technik verschlissen war« sowie dass »das frühere System seine Möglichkeiten erschöpft hatte«. So wurde Gorbatschow immer mehr zum einsamen Rufer in der Wüste.

In einem vor wenigen Jahren entstandenen Dokumentarfilm von Werner Herzog spricht Gorbatschow über Literatur. Das Ehepaar Gorbatschow zeigte sich sehr belesen, man hatte sich für verbotene Bücher wie Rybakows »Kinder vom Arbat« eingesetzt, war mit Tschingis Aitmatow und Daniil Granin befreundet. Sein Lieblingsdichter aber war Michail Lermontow, ein Romantiker aus dem 19. Jahrhundert. Liest man heute dessen Hauptwerk »Ein Held unserer Zeit«, ist man verblüfft über das darin formulierte Lebensziel des Haupthelden des Buches - und fragt sich, inwieweit dieses wiederum Gorbatschows eigenem Ideal entsprach: »Sein Ziel ist, der Held eines Romans zu werden.« Ist das am Ende das »Geheimnis« Gorbatschows?

Die großen Hoffnungen, die er auf die Künstler setzte (und diese auf ihn), zeugen davon, dass die Perestroika vor allem eine geistig-moralische Erneuerungsbewegung sein wollte. Abrüstung auf die eigene Bevölkerung bezogen heißt: heraus aus den Schützengräben des Klassenkampfes und der Konspiration!

In der DDR verweigerte sich die SED-Spitze bis zum Sturz Honeckers beharrlich jeder Reform, verbot sogar antistalinistische Literatur und Filme aus der Sowjetunion wie Tengis Abuladses »Die Reue«. Doch nicht nur bei Künstlern und Intellektuellen, auch bei ganz einfachen Menschen fand Gorbatschow einen starken Widerhall. Ohne ihn wäre der Herbst ’89 nicht möglich geworden. Christoph Heins Rede auf dem X. DDR-Schriftstellerkongress 1987 stand bereits unter dem unmissverständlichen Titel: »Die Zensur ist überlebt, nutzlos, paradox, menschen- und volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar.« Vor Gorbatschow wäre er damit zum Dissidenten geworden. Oder Volker Braun, der sich in einem gleichnamigen Stück dem Thema der »Übergangsgesellschaft« widmet und konstatiert, die Revolution könne nicht als Diktatur ans Ziel kommen. Was aber ist dieses Ziel? Plötzlich konnte man über konkurrierende Sozialismusvorstellungen offen debattieren. Die Umweltbibliotheken der Kirche ebenso wie das »Sozialismus-Projekt« an der Humboldt-Universität, das die Perestroika-Politik in der DDR vordachte, waren starke Hoffnungszeichen.

Gorbatschow, Friedensnobelpreisträger von 1990, beendete den Kalten Krieg. Dabei leitete ihn die Vision eines machtfreien Miteinanders der Völker. Sein Bild von einem »gemeinsamen europäischen Haus«, mit einem Zimmer für Russland darin, scheint aktueller denn je.

Von Gunnar Decker erschien kürzlich im Aufbau-Verlag zu diesem Thema das Buch »Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR«.

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