»Nur die Pest!«

Ljudmila Ulitzkaja beschreibt »Eine Seuche in der Stadt«: 1939 in Moskau unter Stalin

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Wissenschaftler arbeitet an einem Impfstoff. Die Krankheit, gegen die er helfen soll, ist tödlich und hochansteckend. Ihr Name weckt bedrohliche Assoziationen: die Pest. Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit im Labor - eine verrutschte Gesichtsmaske - und die Infektionskette ist in Gang gesetzt. Nur knapp entgeht die Millionenstadt Moskau 1939 einer Epidemie. Die Bevölkerung hat von der drohenden Gefahr nie erfahren.

»Eine Seuche in der Stadt« heißt das neue Buch von Ljudmila Ulitzkaja, im Original schlicht »Die Pest«. Die große russische Autorin ist vor allem für ihre Romane bekannt, aber dieser Text ist ein »Szenario«, ein Drehbuch. Allerdings besteht es nicht wie ein klassisches Filmscript aus Dialogen und kurzen Szenenanweisungen. »Eine Seuche in der Stadt« ist ein episodisches Prosastück, das mit knappen, aber atmosphärischen Beschreibungen sofort Bilder im Kopf entstehen lässt.

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Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt.
A. d. Russ. v. Ganna-Maria Braungardt. Hanser, 112 S., geb., 16 €. •

»Durch eine riesige Schneesturmwüste rollt, mit den Scheinwerfern den tanzenden Schneewirbel beleuchtend, ein Güterzug. Langsam und lange. Er fährt vorbei an einer hinter hohen Schneewehen kaum auszumachenden Stadt und verschwindet in der verschneiten Finsternis.« Der unerbittliche russische Winter bildet den Hintergrund, vor dem sich Ulitzkajas Geschichte über die »Grausamkeit der Natur« und die »Grausamkeit von Machtapparaten« entfaltet, wie sie im Nachwort schreibt. Denn im Zentrum des Szenarios steht nicht nur die drohende Epidemie, sondern auch Angst und blinder Gehorsam auf dem Höhepunkt des Stalinismus.

Rudolf Iwanowitsch Mayer heißt der Forscher, der sich versehentlich selbst mit der Lungenpest ansteckt. Ihm folgt das Szenario auf dem Weg von seinem Laboratorium »am Ende der Welt« nach Moskau. Anhand der Menschen, die er unterwegs trifft, und derjenigen, die später für die Eindämmung der Infektionen zuständig sind, zeigt Ulitzkaja einen kleinen Querschnitt der sowjetischen Gesellschaft. Beim Lesen begegnet man heldenhaften Ärzten, skrupellosen Geheimdienstfunktionären und Zugpassagieren, die das Pech haben, zur falschen Zeit im falschen Abteil zu sitzen. Ulitzkaja kombiniert bekannte Aspekte des Alltagslebens im sowjetischen Russland unter Stalin mit individuellen Eigenheiten und Schicksalen. So gelingt es ihr, lebendige und greifbare Figuren zu schaffen, die als Repräsentanten ihrer Zeit funktionieren.

Auch Stalin persönlich taucht auf, als der »Sehr Mächtige Mann mit georgischem Akzent«. Bei ihm und den anderen Figuren, die den sowjetischen Machtapparat repräsentieren, arbeitet Ulitzkaja mit grotesker Überzeichnung, was die Szenen aber umso treffender und beklemmender macht. Eine Beratung über das Vorgehen bei der Kontaktverfolgung endet zum Beispiel so: »›Gut!‹ Der Mächtige Mann steht entschlossen auf. ›Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidierung.‹ Der Volkskommissar erstarrt. ›Nein, nein, es geht nur um Quarantäne. Nicht um Liquidierung.‹«

Kontaktverfolgung, Schutzmasken und Quarantäne - wenn Ulitzkaja die Maßnahmen gegen die Pest beschreibt, könnte das Vokabular kaum gegenwärtiger sein. Entstanden ist »Eine Seuche in der Stadt« allerdings schon 1978. Der Text beruht auf historischen Ereignissen, über die in der Sowjetunion aber nur wenig bekannt war. Ulitzkaja erfuhr durch eine Freundin von der Geschichte, ihr Vater war als Pathologe an den Ereignissen beteiligt.

In den 70er Jahren hätte der kritische Text kaum eine Chance auf Verfilmung gehabt, also verschwand er in der Schublade. Erst letztes Jahr fiel er der Autorin beim Aufräumen wieder in die Hände und konnte so passend zur Corona-Pandemie erscheinen. Die Lektüre macht einem deutlich die Unterschiede bewusst, wie demokratische und autokratische Gesellschaften mit Epidemien umgehen.

Im Moskau des Jahres 1939 wird die Bevölkerung über die drohende Gefahr im Dunkeln gelassen, und die meisten haben sich abgewöhnt, nachzufragen: »Wer weniger weiß, schläft besser«, sagt einer. Potenziell Infizierte werden ohne jegliche Erklärung gewaltsam festgehalten. Es ist die sowjetische Geheimpolizei NKWD, die die Kontaktverfolgung und Organisation der Quarantäne übernimmt. »Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichtslosen Organisation, dass sie dem Wohl ihres Volkes diente und nicht seiner Einschüchterung und Vernichtung«, schreibt Ulitzkaja in ihrem Nachwort. Die Geheimpolizei scheint wie dafür gemacht, effizient Kontaktpersonen zu identifizieren und einzusammeln. Abgeholt werden sie mit »Schwarzen Raben«, den berüchtigten Gefangenentransportern, die Anwohner regelmäßig in Angst versetzen, wenn sie vor dem Haus vorfahren.

Diejenigen, die in Quarantäne müssen, glauben, verhaftet zu werden, und niemand klärt sie über das Missverständnis auf. Diese Szenen sind die bedrückendsten im ganzen Buch. Sie zeigen, wie allgegenwärtig die Angst vor der Willkür des stalinistischen Sicherheitsapparats war. Die meisten sind schon auf den Moment der Verhaftung vorbereitet und reagieren wenig überrascht. Es kommt zu tragischen Irrtümern. Ein Oberst, der bei einer Sitzung im Volkskommissariat für Gesundheit Kontakt mit dem infizierten Forscher hatte, geht gefasst in sein Arbeitszimmer und erschießt sich. Ein Abschiedsbrief »An den Genossen Stalin« ist vorbereitet. Andere verraten unaufgefordert Belastendes über die vermeintlich in Ungnade gefallenen Familienmitglieder, um sich selbst zu schützen. Denn wer einmal in einen »Schwarzen Raben« gestiegen ist, kommt meistens nicht mehr zurück.

Die rigorosen Methoden des NKWD verhindern, dass sich die Pest weiter ausbreitet, und die Quarantäne wird nach einigen Tagen wieder aufgehoben. In den Familien der vermeintlich Verhafteten ist die Erleichterung groß. »Serjosha? Ich dachte, du kommst auch nicht wieder. Was war das, Serjosha?«, fragt die Frau des Bezirksarztes, als dieser unverhofft auftaucht. »Dina, es war die Pest. Nur die Pest!«, antwortet er. Ulitzkaja lässt die Pest gegenüber dem stalinistischen Terror fast harmlos aussehen: »Mir ging es um den Gedanken, dass die Pest nicht das schlimmste Unglück für die Menschen ist«, schreibt sie im Nachwort.

In den kaum mehr als 100 Seiten ist Ulitzkaja nicht nur eine treffende Kritik autoritärer Herrschaft gelungen, sie bietet auch einige Denkanstöße für den Umgang mit der Corona-Pandemie. Sie zeigt, was für eine gewaltige Herausforderung es ist, Infektionsketten zu unterbrechen, selbst wenn es nur wenige Infizierte gibt. Und nicht zuletzt führt sie mit aller Deutlichkeit die Lächerlichkeit derjenigen vor Augen, die von Diktatur sprechen, weil sie eine Maske tragen sollen und für ein paar Wochen ihre Schnitzel nur zu Hause verspeisen dürfen.

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