Worte biegen, bis sie alles bedeuten

In Mithu Sanyals Debütroman »Identitti« stellt sich eine profilierte Professorin of Color als weiß heraus - ihre Schülerin will sie verstehen

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Geschichte ist schnell erzählt, und sie verspricht vieles zu behandeln, was die öffentliche Debatte intensiv bewegt: An der Uni Düsseldorf lehrt Saraswati, Koryphäe der Postcolonial Studies, umstrittene Star-Intellektuelle und Woman of Color. Ihre Schülerin Nivedita, aus deren Perspektive der Roman geschrieben ist, bewundert Saraswati nicht nur als Lehrerin, sondern liebt sie - beinahe wie eine Mutter -, weil sie ihr zu Selbstbewusstsein verholfen hat. Doch dann wird enthüllt, dass Saraswati in Wirklichkeit Sarah Vera Thielmann heißt und weiß ist - wobei »in Wirklichkeit« bereits als fragwürdig formuliert gelten muss. Denn der Roman dreht sich dann auf 400 Seiten genau darum: was eigentlich »wirklich« ist.

• Buch im nd-Shop bestellen
Mithu Sanyal: Identitti Hanser, 432 S., geb., 22 €. •

Die Autorin Mithu Sanyal, bekannt durch Sachbücher über die Vulva sowie Vergewaltigung, greift mit ihrem Romandebüt »Identitti« den Fall der US-Amerikanerin Rachel Dolezal auf, die Lehrbeauftragte für afrikanische und afroamerikanische Studien in Cheney und Präsidentin einer Ortsgruppe der National Association for the Advancement of Colored People war - und 2015 von ihren Eltern als weiß geoutet wurde. Im vergangenen Herbst - Sanyals Romanmanuskript war da wahrscheinlich schon fertig - kam mit Jessica Krug, Professorin für afroamerikanische Studien an der George-Washington-Universität in Washington D. C., die sich jahrelang als Schwarz ausgegeben hatte, ein ähnlicher Fall hinzu. Sanyal stellt das Phänomen dieses »umgekehrten Passings« in den Mittelpunkt ihrer Geschichte und formuliert eine unerhörte Frage: Lässt sich Race wechseln, wenn sie - wie (nicht nur) die Postcolonial Studies es ja lehren - ähnlich dem Geschlecht keine essenzialistische Kategorie ist, sondern gesellschaftlich hergestellt wird?

Die Studentin Nivedita weiß zwar auch, dass Race ein soziales Konstrukt ist, sieht in der Lüge ihrer Mentorin aber einen Akt der unrechtmäßigen Aneignung einer für Weiße jederzeit wieder ablegbaren PoC-Existenz, um sich eine Professur zu erschleichen. Doch anders als ihre Kommilitoninnen und ihre Freundin Oluchi, die schon Demos gegen Saraswati/Sarah Vera Thielmann planen, und auch anders als das Internet, das sein Urteil schnell gefällt hat, kann Nivedita ihre Professorin nicht einfach fallen lassen. Sie möchte Antworten auf die Frage, weshalb Saraswati getan hat, was sie getan hat. Deshalb geht sie zu ihr und bleibt mehrere Wochen in der Wohnung der Professorin.

In brütender Sommerhitze und mit wechselnder Besetzung - ein paar Menschen kommen und gehen - entfaltet sich nun ein Kammerspiel, das um einige Gespräche über Identität, Zugehörigkeit, Kolonialismus und Rassismus kreist. Ein gelegentlicher Blick ins Internet offenbart, wie sich dort alles verselbstständigt. Dieser Verlauf einer öffentlichen (Netz-)Debatte ist der - Achtung! - Wirklichkeit ziemlich treffend nachempfunden. Wie auch die Gastauftritte der Göttin Kali sind das gelungene (und witzige!) Passagen.

Anderes überzeugt weniger. Am störendsten: Die Figur der Saraswati funktioniert nicht. Sie bleibt eine etwas maue Gayatri-Spivak-Kopie. Es wird nie so recht nachvollziehbar, was Saraswati so beeindruckend macht, wie es die Geschichte nahegelegt - ihre lehrmeisterinnenhaften Einlassungen zu Identität und Postkolonialismus sind zwar effektvoll verpackt, aber letztlich zu oft zu banal. Ihre hervorragendste Eigenschaft scheint zu sein, die Worte so lange biegen zu können, »bis sie alles bedeuten« (also: nichts mehr bedeuten?), wie Nivedita ihr einmal, durchaus bewundernd, vorwirft. Man könnte auch sagen: Sie beherrscht das akademische, aufgeblasene Rumgelabere perfekt - so betrachtet, hat Mithu Sanyal also doch wieder eine authentische Figur geschaffen.

Und natürlich geht es in dem Roman auch um das Lieblingsthema des deutschen Feuilletons: die sogenannte Cancel Culture und Identitätspolitik. Wer es damit nicht so gut meint, der verweist gerne darauf, dass es eine aus den Universitäten kommende elitäre, abgehobene Bewegung sei; und auch Mithu Sanyals Roman spielt zwar in der Nähe des Ruhrgebietes, aber fast ausschließlich in universitären Räumen: an der Uni, in Studi-WGs, Studi-Café und Professorinnen-Wohnung. Das Setting scheint also einige Kritik an (universitärer) Identitätspolitik zu bestätigen. Einzig die Rückblicke auf Familienbesuche in England oder Essen führen weg von der akademischen Blase. In einer dieser Erinnerungen hält Niveditas (aus Indien eingewanderter) Vater ihr vor, sie kenne den »echten« Rassismus, den er erlebt habe, gar nicht: Ein angedeuteter (Generationen-)Konflikt, der leider nicht weiter untersucht wird.

Unbefriedigend auch, dass unklar bleibt, warum die unversöhnliche, wütende Oluchi - wie Nivedita einst Schülerin Saraswatis, nach deren Enttarnung Anführerin der Bewegung für ihre Entlassung und über weite Strecken des Romans so etwas wie Niveditas (sympathische) Gegenspielerin - am Ende des Buches, einige Monate nach den Ereignissen, plötzlich wieder versöhnlich drauf ist. War es der Terroranschlag von Hanau, der, in den Sommer verlegt, auch im Buch passiert und dem Shitstorm gegen Saraswati ein jähes Ende setzt? Das ist offen, doch der Eindruck entsteht, als würden in dieser Geschichte Differenz und Dissens unter von Rassismus Betroffenen durch den geteilten Schock von Hanau eingehegt. Und das ist ganz und gar kein gutes Ende.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.