Selbst Kuba diskutiert über das »nd« und die Linkspartei

Harri Grünberg von Cuba Sí und der Lateinamerikawissenschaftler Matti Steinitz im Streitgespräch über Meinungsfreiheit und den Spielraum von Kritik auf der sozialistischen Karibikinsel

Matti Steinitz, nach einer Resolution der Linkspartei hast du im »nd« eine Kolumne mit dem Titel »Ein guter Tabubruch« geschrieben. Die sorgte für Aufregung in der Kuba-Solidaritätsbewegung und brachte es selbst in die kubanische Tageszeitung »Granma«. Die Zeitung hinterfragte die Solidarität der Linkspartei mit Kuba. Harri Grünberg, war es der Titel oder der Inhalt der Kolumne, der die Kuba-Solidaritätsbewegung in Deutschland in Wallung brachte?

Harri Grünberg: Die Aufregung ist ohne die Vorgeschichte nicht zu verstehen. In aller Kürze: Der Bundesausschuss der Linkspartei hatte zwei Wochen vor der Vorstandssitzung eine Resolution zu »Solidarität mit Kuba« mit breiter Mehrheit verabschiedet - auf Antrag von Cuba Sí. Bei der Vorstandssitzung gab es dann einen Vorstoß der Emanzipatorischen Linken (EmaLi) mit einem Antrag, der sich explizit für eine Solidarisierung mit dem regierungskritischen Movimiento San Isidro (MSI) und dem Rapper Denis Solís aussprach. Im Ersetzungsantrag des linken Flügels standen dann vier Punkte der eindeutigen Solidarisierung mit Kuba. EmaLi hat den übernommen und einen fünften Punkt (u. a. Fortsetzung des Dialogs, siehe Kasten, die Red.) draufgesetzt. Verfahrenstechnisch konnte nur noch über diesen fünften Punkt verhandelt werden, er wurde mit aus der Debatte resultierenden mündlich vorgetragenen Änderungen verabschiedet. Allerdings ohne, dass die gewünschte explizite Solidarisierung mit dem MSI noch drinstand.

Im Interview

Am 23. Januar beschloss der Vorstand der Linkspartei eine Kompromiss-Resolution zu »Solidarität mit Kuba« mit 90 Prozent Zustimmung, ein paar Enthaltungen und ohne Gegenstimmen. Unter Punkt 5 heißt es: »Menschenrechte sind universell, sie gelten für jede und jeden - überall! Wir treten ein für eine Fortsetzung des Dialogs in Kuba mit kritischen Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten zur Demokratisierung der kubanischen Gesellschaft.« Am 2. Februar veröffentlichte »nd« eine Kolumne von Matti Steinitz (oben) unter der Überschrift »Ein guter Tabubruch«. Steinitz ist Lateinamerikawissenschaftler mit dem Schwerpunkt Schwarze Bewegungen und Kultur in den Amerikas. Seine Kolumne brachte die Kuba-Solidarität - vor allem die Gruppe Cuba Sí - auf die Barrikaden und sorgte bis nach Kuba für Furore.

Am Kompromiss zur Kuba-Resolution im Parteivorstand der Linkspartei hatte Harri Grünberg von Cuba Sí mitgearbeitet. Mit Steinitz und Grünberg sprach Martin Ling, der beide duzt, weil er sie seit Langem kennt.

Es gab dann letztlich einen Kompromiss?

Harri Grünberg: Richtig. Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler unterbreitete einen Kompromiss, der noch leicht verändert wurde. Darin war dann nur noch davon die Rede, den Dialog mit kritischen Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten zu unterstützen. Das kubanische Kultusministerium hat allen Künstlerinnen und Künstlern, die das Dekret 349 über Kunstfreiheit kritisieren, den Dialog angeboten. Und diesen unterstützen wir.

Das Dekret wurde 2018 verabschiedet und sieht vor, dass man sich für eine öffentliche Installation oder Performance die Erlaubnis der Behörden einholen muss. Wenn es über den Dialog über das Dekret keinen Dissens gibt - worin lag er dann stattdessen?

Harri Grünberg: Die Auslegung dieses Personenkreises in der Kolumne hat die Solidaritätsbewegung in Aufruhr versetzt. Denn das MSI gehört da aus unserer Sicht als aus Miami gesteuerte Gruppe nicht dazu.

Im linxxnet-Talk zum Thema »Solidarität mit Kuba« sagt Raul Zelik, einer der Teilnehmer am Treffen des Parteivorstands (PV) am 23. Januar, dass du, Harri, selbst an der Formulierung von Punkt fünf mitgewirkt hast. Er verstehe nicht, warum Cuba Sí im Nachhinein diesen Punkt dann infrage stellt. Warum also kritisierst du einen Beschluss, den du selbst mitformuliert und dem du zugestimmt hast?

Harri Grünberg: Ich kritisiere vor allem die Interpretation, nicht den Beschluss an sich. Ich habe mitformuliert, um zu verhindern, dass ein Aufruf zur Unterstützung des MSI verabschiedet wird - das wäre der schlimmste Fall für die Linkspartei gewesen. Vielleicht war es ein Fehler, dem Kompromiss zuzustimmen, und es wäre besser gewesen, die Ursprungsformulierung durchgehen zu lassen, dann wären die Fronten zwischen dem linken Flügel im PV und der PV-Mehrheit klarer gewesen. Allerdings hätte dies den Bruch unserer Beziehungen zu Kuba bedeutet. Die jetzige Formulierung bot Interpretationsspielraum, der die Dinge zum Kochen brachte.

Zum Kochen gebracht hat die Sache deine Kolumne, Matti. Du beziehst dich darin durchaus auch auf das MSI und auf den Rapper Denis Solís, den manche als Repräsentant der Position des MSI sehen. Er hat unter anderem mit seinem Slogan »Donald Trump 2020! Das ist mein Präsident!« für Aufsehen gesorgt. Wofür steht Solís?

Matti Steinitz: Ich muss meinerseits kurz zu einer Klarstellung ausholen: Ich habe an keiner Stelle behauptet, dass sich die Linkspartei mit dem MSI solidarisiert hätte. Ich habe positiv begrüßt, dass sich die Linkspartei für einen Dialog stark macht mit kritischen Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten. Dieser Personenkreis ist fraglos weit größer als das MSI, er umfasst unter anderem das Movimiento 27N, also die Bewegung des 27. Novembers rund um die Proteste vor dem Kulturministerium in Havanna. Doch was das M27N zusammengebracht hat, war die Solidarisierung mit dem MSI. Ein Tag vor dem 27. November 2020 wurde der Sitz des Künstler*innenkollektivs Movimiento San Isidro im gleichnamigen Altstadtbezirk gewaltsam geräumt, und die Bewegung M27N war eine Reaktion darauf. Die Spaltung zwischen den Guten vom M27N und den Bösen vom MSI kann man bei näherem Betrachten sinnvollerweise nicht machen. M27N ist viel breiter als das MSI, lehnt aber die Repression gegen das MSI entschieden ab, ohne mit allen Äußerungen von einzelnen MSI-Mitgliedern in allem konform zu gehen.

Zum Beispiel mit homophoben Äußerungen von Denis Solís. Also wofür steht er?

Matti Steinitz: Denis Solís wird unter anderem von Amnesty International als politischer Gefangener geführt. Er wurde in einem zweitägigen Schnellverfahren ohne anwaltlichen Beistand zu acht Monaten Haft verurteilt, weil er einen Polizisten, der sein Haus ohne richterliche Anordnung betreten hatte, als »Feigling« und »Schwuchtel« beleidigte. Die Wortwahl, für die er sich mittlerweile entschuldigt hat, ist Ausdruck einer Alltagshomophobie, die ich ablehne. Ich wurde in den späten 90er und frühen 2000er Jahren in der Antifa-Bewegung politisch sozialisiert. Ich bin überzeugter Antifaschist, überzeugter Antirassist, Antisexist. Daher stimme ich natürlich auch mit Solís Pro-Trump-Aussagen in keiner Weise überein. Völlig unabhängig von seinen Sprüchen, wohlgemerkt einer Einzelperson, die nicht Pars pro Toto für das MSI steht, zeigt sein Fall, dass die Verweigerung von Grundrechten für Andersdenkende in Kuba ein Problem ist. Das Delikt, das ihm vorgeworfen wird, fällt unter freie Meinungsäußerung, das Verfahren war nicht ansatzweise rechtstaatlich. Solís ist wegen Beamtenbeleidigung nun seit ein paar Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt. Das ist nicht verhältnismäßig. Ich finde die breiten Proteste in Spanien richtig, die sich für den inhaftierten katalanischen Rapper Pablo Hasél stark machen, wie das in den vergangenen Wochen der Fall war. Hasél hat unter anderem die spanische Monarchie beleidigt. Und ich finde, dass auch für Solís Grundrechte gelten sollten. Meinungsfreiheit sollte für alle gelten und nicht davon abhängen, ob die Kritiker ein bestimmtes politisches System unterstützen oder nicht, Meinungsfreiheit muss auch für Systemkritiker*innen gelten. In Spanien, in Kuba, in Deutschland. Das ist aus meiner Sicht die Essenz bei der Universalität von Menschenrechten, für die man als Linker einstehen sollte. Menschenrechte sollten nicht diskreditiert werden, indem unterstellt wird, dass sie als Vorwand für Interventionen genutzt werden. Das ist historisch immer wieder passiert, das ist abzulehnen. An der Universalität ändert es aber nichts.

Solís ist ein Mitglied des MSI, aber kein Repräsentant, wie siehst du das, Harri?

Harri Grünberg: Widerspruch. Solís vertritt keine Einzelmeinung innerhalb des MSI. Es gibt viele Youtube-Videos rund um das MSI mit Aufrufen, Kuba sei erst wieder frei, wenn eine Million Kommunisten umgebracht wurden. Darin wird auch eine US-Militärintervention eingefordert. Denis Solís ist nicht nur wegen Beamtenbeleidigung beschuldigt. Die Polizei kam in sein Haus, weil gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung terroristischer Aktivitäten im Gang ist, weil er sich positiv zu den »lobos solitarios« (dt.: einsame Wölfe) geäußert hat, einer Gruppe, die in Kuba minderschwere Terrorakte wie das Abfackeln leerer Schulgebäude und das Werfen von Molotowcocktails zu verantworten hat. Diese Aktivitäten werden von Miami aus gesteuert, und Solís hat sich in Videos positiv darauf bezogen. Jeder, der hier in Deutschland unter Verdacht kommt, in Terror verwickelt zu sein, wird hier ebenfalls verfolgt. Dass er Trump hochlobt, ist kein Grund für eine Strafverfolgung, dass er Terror gutheißt, schon. Und Solís hat das Urteil nicht angefochten, obwohl ihm der Rechtsweg dafür freistand. Das hat seine Situation sicher nicht verbessert.

Ist Solís ein Terrorist, Matti?

Matti Steinitz: Die erste Frage, die sich stellt, ist doch, warum er nicht wegen Unterstützung terroristischer Aktivitäten verklagt wurde, sondern nur wegen Beamtenbeleidigung. Diese Terrorbeschuldigungen beruhen auf einem von den kubanischen Sicherheitsbehörden veröffentlichten Video, in dem Solís ohne Beisein eines Anwalts verhört wird und gesteht, mit dem Vertreter eben jener obskuren »lobos solitarios« telefoniert zu haben, von denen es aktuell keine nachgewiesenen Tätigkeiten auf der Insel gibt. Gäbe es sie, wären sie mit Sicherheit Gegenstand breiter Berichterstattung in den kubanischen Medien. Aber klar: Es gibt rechtsextreme exilkubanische Kräfte, die alles dafür tun, um den Sozialismus in Kuba zu schwächen. Aber aus meiner Sicht ist es ein Fehler, das MSI wegen der Aussagen Einzelner unter Terrorismus-Generalverdacht zu stellen. Das MSI setzt sich ein für Homosexuellenrechte, Legalisierung von Marihuana, gegen soziale Ungleichheit, gegen Gewalt gegen Frauen, gegen Rassismus - allesamt urlinke Forderungen. Dass man sich hier in Deutschland aus der Ferne herausnimmt, diese ganze Bewegung als stramm rechts zu verurteilen, finde ich anmaßend.

Harri Grünberg: Aber Solís ist doch mit sehr homophoben Äußerungen bekannt geworden. Es gibt darüber hinaus kaum ein Land in Lateinamerika, dass bei der Entdiskriminierung von sexuellen Minderheiten solche Fortschritte gemacht hätte wie Kuba in den vergangenen zehn Jahren. Wo Fidel Castro sagte, zum Glück haben wir diese Ära des Machismo endlich hinter uns gelassen. Und es gibt kaum ein Land in Lateinamerika, wo die Schwarze Bevölkerung so viele Rechte hat und so wenig Diskriminierung erfährt wie in Kuba. Selbstverständlich gibt es Rassismus auf Kuba, in der Bevölkerung, das hab ich selbst erlebt. Aber institutionellen Rassismus gibt es dort nicht. In den USA wurden zuletzt unter Donald Trump noch mal massiv die Mittel aufgestockt, um den Regime Change in Kuba zu betreiben. Da geht es nicht um eine direkte Militärintervention, sondern erst mal darum, über sogenannte Nichtregierungsorganisationen eine Konterrevolution zu entfesseln, wie es im Handbuch steht und wofür es historisch genügend Beispiele gibt. Das MSI spielt da mit, und Geld korrumpiert natürlich auch.

Trotzdem stellt sich die Frage, ob sich die Aktivist*innen des MSI über einen Leisten schlagen lassen. Der nun nicht als Regierungskritiker bekannte 76-jährige kubanische Filmregisseur Fernando Peréz hat sich die Sache aus der Nähe angeschaut: »Am Abend des 27. November spürte ich, dass ich in die Zukunft reiste. Auf dieser Reise, auf der ich die jungen Künstler und Künstlerinnen bei ihrem Protest vor dem Kulturministerium begleitete, teilte ich mit ihnen einen Raum, der offen, inklusiv, divers und pluralistisch war. Diese Jungen nahmen so ein Kuba vorweg, von dem viele Kubaner und Kubanerinnen (aller Generationen) geträumt haben und immer noch träumen.« Steht das in einem Widerspruch zu einer sozialistischen Gesellschaftsutopie, Harri?

Harri Grünberg: Ich finde es nützlich, dass die kubanische Regierung einen Dialog mit den jungen Künstlern und Künstlerinnen führt. Man muss nur wissen, wo man die Grenze zieht. Solange man mit jenen spricht, die am Kurs des Ausbaus des partizipativen Demokratiemodells in Kuba mitarbeiten wollen, wie es in der neuen Verfassung von 2019 geschrieben ist, muss man mit allen gesellschaftskritischen Bereichen den Dialog führen. Es wurde schließlich auch mit dem kritischen, weltbekannten kubanischen Schriftsteller Leonardo Padura der Dialog geführt. Padura hat die völlige Abkehr von einem stalinistischen Gesellschaftsmodell gefordert, und der Dialog mit ihm hat das auch befördert. Vor zehn Jahren wurde in Havanna eine Trotzki-Konferenz abgehalten, was lange Zeit undenkbar war. Keine Frage: Die Regierung muss den Dialog führen. Nur, ob man diesen mit der Konterrevolution führen kann, ist eine schwierige Frage. Das MSI gehört in diese Kategorie. M27N nicht, aber auch das ist keine Gruppe, mit der man sprechen muss.

Sprich: kein Dialog weder mit MSI noch mit M27N? Repressives Vorgehen gegen deren systemkritische Positionen? Einschränkung der Meinungsfreiheit in Bezug auf diese Gruppen? Über strafrechtliches Vorgehen gegen terroristische Aktivitäten gibt es ja keine zwei Meinungen, die sind geboten immer und überall.

Harri Grünberg: Einen Dialog halte ich auch mit M27N nicht für sinnvoll. Ein Dialog setzt voraus, dass man das kubanische System verbessern und im Sinne einer sozialistischen Demokratie ausbauen will. Das MSI will den Regime Change, das Ende des sozialistischen Kubas. Die fordern die Fortsetzung der Blockade. So jemand kann kein Dialogpartner sein.

Matti Steinitz: Auch durch die Wiederholung wird die Behauptung nicht wahrer. In den offiziellen Statements des MSI findet sich keine einzige Forderung nach einer Intervention der USA. MSI hat durch eine sehr provokative Art der Kritik etwas losgetreten, was in der kubanischen Gesellschaft auf breite Resonanz gestoßen ist. Und zwar die Forderungen nach Meinungsfreiheit, gegen Repression und für Dialog. Das MSI als Bewegung wegen angeblichen »Söldnertums« von vornherein komplett auszuschließen, ist von vorgestern.

Nach Jahrhunderten der Unterwerfung durch Kolonialismus, Sklaverei, Diktatur und Imperialismus war die kubanische Revolution ein Meilenstein mit großer Symbolkraft in dem globalen Freiheitskampf, der das 20. Jahrhundert prägte. Selbstbestimmung war eines der zentralen Anliegen dieser Kämpfe. Im 21. Jahrhundert wäre es wichtig, Akteuren in der kubanischen Gesellschaft wie denen über die wir gerade sprechen, nicht in paternalistischer Manier von hier aus jegliches selbstbestimmtes Handeln und Denken abzusprechen, indem sie pauschal als bezahlte Söldner oder Handlanger des US-Imperialismus delegitimiert werden. Cuba Sí und andere Soli-Gruppen setzen sich vehement für ein souveränes Kuba ein - ihre Beurteilung systemkritischer Gruppen ist aber vollständig davon geprägt, wie sich Politiker oder Medien in den USA mit ihren antikommunistischen Agenden zu ihnen verhalten. Dass viele kubanische Bürger, ob Rapper, Künstler oder Journalisten, durch eigene Alltagserfahrungen eine kritische Haltung zur kubanischen Revolution entwickeln, kann, und darf wegen der historischen und aktuellen geopolitischen Bedeutung derselben offensichtlich nicht sein. Diese Bewegungen aus Aktivist*innen und Künstler*innen sind nicht anti-kubanisch, sie sind Teil Kubas genauso wie die Unterstützer*innen der kommunistischen Partei Kubas Teil Kubas sind. Alle sind legitime Akteure für die Gestaltung der Zukunft. Auf die Bewegungen einzuschlagen und sie in die rechte Ecke zu stellen, hilft der Sache nicht weiter.

Wie siehst Du das, Harri?

Harri Grünberg: Es gilt in Erinnerung zu rufen, dass die kubanische Revolution 1959 kein Wurmfortsatz des realen Sozialismus war, sondern eine eigenständige, sehr authentische, bisweilen antistalinistische Revolution war. Auch wenn es einen gewissen Grad der Bürokratisierung der kubanischen Revolution gegeben hat, hat sich diese eigenständige Entwicklung fortgesetzt. Die kubanische Revolution hat immer diskutiert, welchen Weg in eine demokratischere Gesellschaft zu gehen ist, ohne dass dabei dem Modell der bürgerlichen Demokratie nachgeeifert worden wäre. Die bürgerliche Demokratie ist ja nicht das Nonplusultra. Kuba hat sich für einen Weg entschieden, wie man direkte Demokratie aufbauen kann. Das müsste man erst mal wertschätzen, auch die Akteure auf Kuba. Im Rahmen der Revolution ist alle Kritik erlaubt, außerhalb nicht. Das gilt seit 1959. Wenn man auf der anderen Seite steht, wenn man mit Miami verbunden ist, dann ist kein Raum für Debatte und Dialog. Kuba ist im Moment eine bedrohte Insel, die Revolution könnte scheitern, weil sie ökonomisch erdrosselt wird, in so einer Situation sind bestimmte Reflexe auch verständlich. Ich habe nicht den Eindruck, dass Kuba da was falsch macht. Das Dialogangebot zielt ja auf alle diejenigen, die im Prozess der Revolution mitgenommen werden. Und alleine die Tatsache, dass das Dekret 349 über Kunstfreiheit im Dialog mit den Künstlern verändert werden soll, zeigt doch die Bereitschaft der kubanischen Regierung, sich mit Kritikern zusammenzusetzen. Das ist der richtige Weg und der Weg, wie man eine partizipative, demokratische Gesellschaft aufbauen kann.

Wie siehst du die Partizipation, Matti?

Matti Steinitz: Vor zwei Monaten hat sich ein Jugendlicher namens Luis Robles mit einem Schild auf die Straße gestellt, auf dem stand »Libertad, no más represión, FreeDenis« (Freiheit, keine Repression mehr). Er sitzt seitdem im Gefängnis. Vor wenigen Tagen hat sich eine Frau, die Mitglied des MSI ist, den Titel von dem millionenfach angeklickten neuen Song von Yotuel »Patria y vida« (Vaterland und Leben) auf die Wand ihres Hauses gesprüht. Danach ist eine Gruppe regierungsnaher Aktivisten in das Haus eingedrungen und hat sie und ihre beiden Kinder bedroht. Es gibt viele Beispiele, dass beim partizipativen Prozess Andersdenkende ausgeschlossen bleiben. Kritik an der Regierungspolitik wird mit Repression begegnet. Einen vorbildlichen partizipativen Prozess kann ich da nicht erkennen.

Harri Grünberg: Ich habe nicht gesagt vorbildlich. Ich habe gesagt, es findet ein Prozess der partizipativen Demokratie statt, der in der per Plebiszit abgestimmten und vorher in unzähligen Diskussionen besprochenen Verfassung 2019 seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Diese Verfassung muss nun mit Leben gefüllt werden.

Der Vorstand der Linkspartei hat einen neuen Beschluss zu Kuba nachgeschoben. Zurückgenommen wird vom Beschluss aus dem Januar nichts, allerdings eindeutig klargestellt, dass es keine Neuorientierung der Linkspartei in Sachen Kuba gibt. Hat die Linkspartei nun ein Tabu gebrochen und sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit Kritikern der kubanischen Regierung solidarisiert oder nicht?

Matti Steinitz: Dass mit dem Beschluss etwas Neuartiges stattgefunden hat, ist nicht bestreitbar. Wenn man von kritischen Akteuren redet, kann man das MSI davon nicht ausnehmen, die sind ja kritisch. Das hatte ich der Linkspartei positiv angerechnet. Es wäre fern der Realität, das MSI da auszuklammern.

Harri Grünberg: Unser Beschluss spricht von kritischen Künstlern, nicht von Regierungsgegnern, das ist ein Unterschied.

Matti Steinitz: Für mich gehört zur Kritik das Recht auf Kritik an der Regierung. Meine mit dem jüngsten Beschluss infrage gestellte Feststellung, dass ein Tabu gebrochen wurde, wurde von Cuba Sí - Ihrer Organisation, Herr Grünberg - ausdrücklich bestätigt. Ich zitiere: »Erstmals in der Geschichte unserer Partei wurde damit von einem offiziellen Parteigremium ein Beschluss gefasst, in dem der demokratische Charakter der kubanischen Revolution infrage gestellt und zu einem Dialog in Kuba mit so bezeichneten ›Aktivist*innen‹ aufgerufen wird. Mit dieser Formulierung wurde zweifelsfrei ein Tabubruch vollzogen, der vom innerparteilichen Zusammenschluss Emanzipatorische Linke (EmaLi) vorangetrieben wurde«, heißt es in einer Stellungnahme von Cuba Sí. Und das zeigten auch die Reaktionen, ob nun die Anfeindungen gegen mich als Autor und Überbringer der Botschaft, das »nd« als Ort, in dem es verlautbart wurde oder einem Artikel in der »Granma«, wo ebenfalls von einem Tabubruch mit Bezug auf die Kolumne die Rede war. Bedauerlich ist, dass niemand mehr von den ursprünglichen Unterstützer*innen des Punktes 5 im Parteivorstand öffentlich das Wort ergriffen hat. Meine Reputation als Wissenschaftler wurde im Zuge dieser Debatte infrage gestellt, Fakenews-Vorwürfe, manipulatives Vorgehen. Darüber hat die Bundesgeschäftsstelle der Linkspartei mir gegenüber ihr Bedauern ausgedrückt. Aber meine zentralen Fragen an den Vorstand bleiben unbeantwortet! Wo liegt denn der Fehler meiner Interpretation? Hat wirklich keine Neuausrichtung stattgefunden? Dann sollte der Punkt 5 ehrlicherweise auch zurückgenommen werden. Die Debatte nach der Kolumne hat mir gezeigt, dass die Hoffnung der zwischen allen Stühlen stehenden linken kubanischen Dissident*innen auf dringend benötigte Rückendeckung durch eine linke Partei verfrüht war.

Harri Grünberg: In der Partei gibt es eine sehr solide Grundlage der Solidarität mit Kuba. Richtig ist, dass sich diese Grundlage nicht unbedingt in der engeren Führung der Partei widerspiegelt. Dass der Antrag von EmaLi im Parteivorstand so eine Unterstützung bekam durch Akteure wie Katja Kipping, das ist ein Novum, und das ist ein Tabubuch in der Tat. Aber die Reaktionen haben gezeigt, dass die Basis keine Wackelposition zu Kuba wünscht. Da wird gewünscht, dass wir mit dem revolutionären Kuba solidarisch sind in der Konfrontation mit dem US-Imperialismus und auch dem EU-Imperialismus. Deswegen soll es auch auf Anregung von Hans Modrow zu einer dritten Kuba-Konferenz kommen, auf der Punkte wie Menschenrechte, soziale Differenzierungen diskutiert werden sollen. Das kann mit Experten diskutiert werden. Aber die Grundbotschaft bleibt: Die Position der Grundsolidarität mit Kuba darf in dieser Partei nicht wackeln.

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