Der Vater der Flüsse
Am Nil wurde und wird Wirtschafts- und Sozialgeschichte geschrieben
Das Wüstenparadies
Kaum ein Fluss hat die Menschen derart in den Bann gezogen wie der Nil. Schon aufgrund seiner gewaltigen Länge stellte er Anwohner und Reisende bis ins 19. Jahrhundert hinein vor Rätsel: 6800 Kilometer windet er sich durch Regenwälder, Sumpfgebiete und schließlich die Wüsten Ägyptens. Der Autor nimmt uns mit auf eine historische und geografische Reise von der Mündung ins Mittelmeer über den Äquator bis zu den Quellen im Herzen Afrikas. So entsteht die faszinierende Biografie eines Flusses, ohne die auch aktuelle Konflikte nicht zu verstehen sind.
Terje Tvedt, geb. 1951, ist Professor an der Geografischen Fakultät der Universität Bergen und für Globalgeschichte an der Universität Oslo. Er ist einer der führenden Experten für den Nil und die Nilregion.
Andreas Brunstermann, geb. 1960, übersetzt aus den skandinavischen Sprachen und dem Englischen. Er lebt in Berlin.
Gabriele Haefs, geb. 1953, lebt als Übersetzerin und Autorin in Hamburg.
Nils Hinnerk Schulz, geb. 1979, lebt in Hamburg und übersetzt aus den skandinavischen Sprachen und dem Englischen.
Will man erfassen, welche Bedeutung der Nil für Ägypten hat - das Land ganz unten am Flusslauf, das immer die Großmacht am Nil war -, muss man begreifen, was dieses Wüstenland ohne den Fluss gewesen wäre. Auch den Wert des Wassers versteht man ja erst, wenn man erlebt hat, dass der Brunnen austrocknet, und was Licht ist, weiß man erst, nachdem man die Dunkelheit gesehen hat. Diese Biografie des Nils beginnt deshalb mit Fayyum, der klassischen Oase in der Wüste auf dem Westufer des Flusses. In der Sahara sind manche Gegenden so trocken, dass Archäologen Zigarettenblättchen gefunden haben, die alliierte Soldaten im Zweiten Weltkrieg während des Wüstenkriegs gegen Deutschland weggeworfen haben. Dort, wo die Wüste ihre Farbe ändert, von braun und fleckig zu weiß und rein, öffne ich die Autotür und spüre, wie mir die Hitze entgegenschlägt. Ich brauche nur einige Minuten, um über die nächstgelegene Sanddüne zu laufen, fort von der asphaltierten Straße, die sich durch die durch und durch karge Landschaft zieht, und ich sehe nur Wüste und bin ganz allein. Absolut allein. Hier gibt es nichts. Und was vielleicht besonders außergewöhnlich ist: Es riecht nach nichts. Zwar erinnern die endlosen Sandwellen in gewisser Weise an das Meer, gleichwohl ist die Wüste ein Ort ohne Gerüche. Der einsam wehende Wind verstärkt noch das Gefühl der Leere. Näher können wir der Wahrheit über Ägypten nicht kommen. Wenn eine fantasievolle, von Wüstenfilmen inspirierte Stadtseele wie meine dann wieder im Auto sitzt und zu hören glaubt, dass der Motor wegen der Hitze streikt, kann sie anfangen, romantische Vorstellungen zu entwickeln. Der Wagen, der aufgrund eines Motorschadens liegen bleibt, und der Wind, der das Auto langsam, aber sicher bedeckt, während man in seinem Windschatten Zuflucht sucht. Die Wasserflaschen, die immer leerer werden … Und dann tauchen die Wegweiser nach Fayyum auf.
Fayyum ist seit Jahrtausenden bekannt als »Ägpytens Garten« und wird auch »Wüstenparadies« genannt. Es ist eine pulsierende Oase - mit prachtvollen Moscheen, alten Kirchen und antiken Sehenswürdigkeiten. Wenn man im Zentrum dieses 692 Quadratkilometer großen Beckens steht und Palmen sieht, die sich allesamt in dieselbe Richtung beugen, wenn man Esel sieht, die viel zu schwer aussehende Lasten von Getreide und Obst tragen, oder einige Wasserbüffel, die nachdenklich die Vorüberkommenden mustern, und Bauern, ja, überall Bauern, die auf den kleinen grünen Feldern arbeiten, ist es nicht leicht zu begreifen, dass es hier niemals regnet.
Fayyum ist deshalb so interessant für alle, die sich für die frühe Geschichte der Menschheit interessieren, weil es auch in prähistorischer Zeit bereits ein fruchtbares Paradies war. Die ersten festen Wohnsiedlungen in Ägypten entstanden vor etwa 7000 Jahren, und sie entstanden in Fayyum - als Ergebnis eines Wanderungsprozesses mit ungewöhnlich weitreichenden Konsequenzen. Als die Sahara langsam zur Wüste wurde, suchten die »Klimaflüchtlinge«, wie wir heute sagen würden, nach permanentem Zugang zu Wasser. Schrittweise bevölkerten sie deshalb die Gegenden in östlicher Richtung und erreichten schließlich den großen Fluss, der die Sahara das ganze Jahr über durchquert.
Fayyum entwickelte sich rasch zu einer der allerersten Landwirtschaftsregionen der Weltgeschichte. Die Position dieser Oase ist allein darauf zurückzuführen, dass der Nil jedes Jahr die niedrigen Hügel überflutete, die den Fluss von der Senke trennen. Ursprünglich war das fruchtbare Fayyum also das Werk der Natur. Aber der Fluss zeigte den Menschen, wie die Wunder der Natur funktionierten, oder die Wunder der Götter, was für viele dasselbe war, und sie setzten sich zum Ziel, diese zu kopieren, wenn auch in kleinerem Maßstab. Vor fast 4000 Jahren, unter Amenemhet I. in der 12. Dynastie, kamen die Ägypter auf die geniale Idee, die Flut mithilfe des natürlichen Fayyumsees als regulierendem Reservoir unter Kontrolle zu bringen. Der Binnensee, später von zahllosen Reisenden beschrieben als eine Art göttliches oder auch natürliches Wunder, wurde zu einem frühen Nil-Stausee und zu vermutlich einer der ersten Anlagen dieser Art in der Geschichte der Menschheit. Der fast 4000 Jahre alte Regulierungsdamm in Ägyptens zentraler Oase war somit ein Vorläufer für die Zehntausende ähnlicher Bauwerke, die eine moderne Gesellschaft erst möglich machen. Sie waren die Voraussetzung für die enorme Steigerung der Nahrungsmittelproduktion seit 1900 und damit die Bedingung dafür, dass Millionen von Menschen sich irgendwann in den Ansiedlungen, die wir Städte nennen, niederlassen und dort leben konnten. Heute hat sich der See zu einem gewaltigen, in trägem Blau funkelnden Binnensee mitten in der Wüste entwickelt, aber sein Wasser ist zu leblos, um abkühlend zu wirken. Wenn man am Südufer steht, dehnt er sich ungefähr so weit aus, wie das Auge reicht; hier ist die Luft diesig, sie flimmert in der Hitze, und ganz in der Ferne erheben einige trockene Hügel gewissermaßen ihr Haupt aus dem See, mit einer gelbroten Wüstenfarbe vor dem fast weißen Himmel.
Alte Mythen berichten, dass es der biblische Josef war, der den über die Ufer tretenden Flusslauf an der Stelle erweiterte, wo dieser sich aus dem eigentlichen Niltal losreißt, und ihn ein Stück südlich von Fayyum nach Westen leitete. Dieser Kanal wird deshalb Josefskanal genannt. Das Wassersystem, von dem die vielen Dattelzüchter, Ladenbesitzer, Restaurantbesucher und Gläubigen in den Moscheen in Fayyum vollständig abhängig sind, ist also sowohl ein Produkt der Natur als auch der menschlichen Fähigkeit, diese zu kopieren und weiterzuentwickeln. Wenn man an den sich durch die Oase schlängelnden Kanälen entlangwandert, ist es schwer zu sagen, wo das eine endet und das andere beginnt. Fayyum ist insofern ein verdichtetes, konzentriertes Bild Ägyptens - ungeheuer fruchtbar und auf allen Seiten von Wüste umgeben, entstanden durch eine Kombination aus der Natur des Nils und einem von Menschen geschaffenen und von Menschen kontrollierten Wassersystem.
Fayyum ist noch auf eine andere Weise das Spiegelbild Ägyptens. Während der Oase vom Staat immer mehr Wasser zugeführt wurde, stieg die Wasserknappheit, und die Bevölkerung bekundete ihre Unzufriedenheit. Die Kontrolle über das Wasser ist im Wüstenklima immer ein zweischneidiges Schwert, ökologisch wie politisch, denn die Bedürfnisse steigen die ganze Zeit entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist unbestreitbar: Je mehr sich Ägypten vom Wasser des Nils abhängig gemacht hat, umso verletzlicher wurde es für natürliche und vom Menschen verursachte Veränderungen des Flusses. In einer Langzeitperspektive lässt sich das als das hydraulische Paradoxon beschreiben, um das sich die ägyptische Geschichte dreht.
Skarabäen, Wiedergeburt und des Todes und des Lebens Strom
Die Wüste zwischen Fayyum und Alexandria besteht nur aus Sand und Wind. Keine Spur von Leben, abgesehen von einem Käfer, einem Skarabäus, der eine Kugel aus feuchter Erde einen kleinen Hang im Wüstensand hochrollt. Manchmal wird die Kugel zu schwer und kullert wieder nach unten. Dann fängt der Käfer von vorn an und schiebt sie wieder aufwärts, Zentimeter für Zentimeter. Normalerweise rollt das Männchen die Kugel. Das Weibchen läuft hinterher. Es legt die Eier in feuchter Erde oder Exkrementen ab, welche die Eier beschützen können. Dann wird die Kugel an eine sichere Stelle gerollt, im Sand vergraben, und wenn auf diese Weise die Nachkommenschaft gesichert ist, sterben die beiden zufrieden.
Diese Wüstenkäfer genossen im alten Ägypten einen heiligen Status. Der Skarabäus verkörperte und konkretisierte eine altägyptische Vorstellung von Transformation, Erneuerung und Auferstehung. In der ägyptischen Mythologie hieß der Gott, der die Fähigkeit zur Selbsterschaffung symbolisierte, Chepre - »der, der das Sein wird«. Auf Darstellungen ist er meistens zu sehen, wie er jeden Tag die Sonne über den Himmel schiebt, nachdem er sie über Nacht sorgsam durch die ägyptische Unterwelt gerollt hat. Chepre wurde meistens als Skarabäus dargestellt. In einzelnen Grabmalereien ist der Gott, der die Fähigkeit des Erschaffens darstellte, als Mann mit Menschenleib und Wüstenkäferkopf zu sehen.
Die alten Ägypter glaubten, der Käfer sei, ebenso wie Chepre, aus dem Nichts entstanden. Sie glaubten, es gebe nur männliche Skarabäen, weshalb die Käfer, die aus den Kugeln krochen, im wahrsten Sinne des Wortes von nichts kämen. Die Skarabäen symbolisierten sowohl schöpferische Kraft als auch ewiges Leben. Die Skarabäen und Chepre konnten dazu beitragen, die Prozesse in der Natur zu erklären, die die Ägypter immer wieder erlebten: die Auferstehung des Lebens vom Tode, die Erneuerung der Erde von totem Braun zu lebendem Grün, die Pflanzen, die aus dem Wüstensand auftauchten, als erwüchsen sie aus dem Nichts. Jedes Jahr erlebten der ägyptische Bauer und die gesamte ägyptische Gesellschaft solche Wunder. Das Delta verwandelte sich aus einem Ort, an dem nichts wachsen konnte, in die fruchtbarste Region der Welt. Und dahinter steckte die Natur selbst. Nach den damaligen Kenntnissen über die Funktionsweise der Natur gab es keine andere Möglichkeit, als die Wunder des Nils der Macht der Götter oder später der Pharaonen oder Gottkönige zuzuschreiben. Für die Ägypter wirkte es aufgrund dieser alljährlichen Beobachtungen logisch, den Tod einfach für das Tor zu neuem Leben zu halten.
Der Skarabäus, der unbeirrbar seine Kugel aus Exkrementen oder feuchtem Schlamm den seichten Hang in der Wüste hochrollt, ist der Geschichtslehrer der Natur und der Bote der Mythen. Er ist eine Erinnerung und eine Versinnbildlichung der Vorstellungen von Tod und Leben, die das Denken in Ägypten prägten, ein Denken, das die Weltanschauung der Menschen über einen viel längeren Zeitraum bestimmte und formte als die durch Christentum und Islam verbreitete Vorstellung von Tod und Leben die Vorstellungswelt in Europa und dem Nahen Osten. Die alljährlichen Wunder des Nils haben in vielen Bereichen die Grundlage für zentrale religiöse Vorstellung in den Wüstenreligionen gelegt, die später in diesem Gebiet entstehen und schließlich die ganze Welt beeinflussen sollten. Der Käfer ist der Ausgangspunkt der ersten Mythen und erinnert uns zugleich daran, dass der Nil die Vorstellungen über ewiges Leben geprägt hat und als Schöpfer der Gesellschaft galt …
Terje Tvedt:
Der Nil. Fluss der Geschichte
Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann, Gabriele Haefs, Nils Hinnerk Schulz
Ch.Links Verlag
592 S., geb., 35,00 €
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