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Lernen statt Prüfungen absolvieren
Wie können Menschen an Schulen und in Klinken entlastet werden, bevor es genug Impfstoff gibt?
Die Pandemielage in Deutschland kann sich spürbar entspannen, wenn es genug Impfstoff gibt. Alle zugelassenen Impfstoffe schützen vor schweren Krankheitsverläufen, sagt Nina Meckel, Sprecherin der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Bis Ende August könnte laut Divi ein Großteil der Bevölkerung geimpft sein.
Die Frage ist, was bis dahin geschieht, ob die Zahl der infizierten und erkrankten Menschen weiter stark steigt, ob Menschen weiter unter zusätzlichen Corona-Belastungen arbeiten und Kinder zusätzlichen Schulstress haben. Oder ob eine Entlastung möglich und der Druck zu lockern ist. Am Montag beraten Bund und Länder über das weitere Vorgehen in der Pandemie.
Wir haben Fachleute gefragt, wie die Situation derzeit in zwei Bereichen ist: in der Intensivmedizin und in Schulen. Und: Wie ist dort eine Entlastung möglich?
»Wir haben die Aufgabe, Schwerkranke zurück ins Leben zu bringen«, sagt Divi-Präsident Prof. Gernot Marx. Die Arbeit ist anspruchsvoll und anstrengend. Marx nennt ein Beispiel: Bei einem schweren Krankheitsverlauf kann es helfen, die intubierten und narkotisierten Covid-19-Erkrankten auf den Bauch zu legen. Sie müssen dann alle 16 Stunden gewendet werden. Das dauert etwa eine Stunde pro Patient, es kostet Kraft und erfordert Umsicht. Hinzu kommt die psychische Belastung: Erkrankte, die bei Bewusstsein sind, haben Angst, Angehörige dürfen sie nicht besuchen. Damit muss das Klinikpersonal umgehen. Zwei Pflegekräfte sind tagsüber auf Intensivstationen die Mindestbesetzung, um fünf Patientinnen und Patienten zu versorgen - eigentlich ist laut Divi mindestens eine 1:1-Betreuung nötig.
Derzeit gibt es rund 3000 Corona-Intensivpatienten in Deutschland. Weil die Infektionszahlen zuletzt stark gestiegen sind, steigt jetzt auch die Zahl der Schwerkranken auf Intensivstationen wieder. Dass viele Hochbetagte mittlerweile geimpft sind, ändert daran nichts. Die meisten Covid-19-Erkrankten auf Intensivstationen seien jünger als 80 Jahre, so Marx. Im Frühjahr 2020 lag der Altersdurchschnitt bei 68 Jahren.
Mehr Infektionen bedeuten insgesamt mehr Erkrankte, mit milden oder schweren Beschwerden, auch unter Jüngeren. Das Wissenschaftliche Institut der AOK hat dazu Daten von Beschäftigten ausgewertet, die bei der AOK versichert sind. Demnach gab es während der großen, zweiten Pandemiewelle im Dezember fast doppelt so viele Covid-19-Krankschreibungen wie im April.
Insgesamt waren im vorigen Jahr rund 289 000 AOK-versicherte Beschäftigte im Zusammenhang mit Covid-19 krankgeschrieben, besonders stark waren Pflegekräfte und Berufstätige in der Kindererziehung betroffen. Im Schnitt waren sie knapp neun Tage arbeitsunfähig. Hinter diesem Durchschnitt verbergen sich leichtere und schwerere Fälle. So mussten knapp 14 Prozent der Beschäftigten, die im Frühjahr 2020 wegen Covid-19 krankgeschrieben waren, ins Krankenhaus. Ihr Durchschnittsalter betrug 47 Jahre.
Auf den Intensivstationen gibt es derzeit rund 24 000 »betriebsbereite« Betten. Das sind deutlich weniger als im August. Ein Grund ist laut Meckel fehlendes Personal: Pflegekräfte sind erkrankt, andere müssen ihre Kinder betreuen, weil die Schule zu ist, wieder andere müssen nach Monaten der Dauerbelastung pausieren.
Was würde das Personal entlasten? »Weniger Patienten«, sagt Marx. Der wissenschaftliche Leiter des Divi-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, plädierte bereits vor einigen Tagen dafür, »sofort wieder in einen Lockdown zu gehen«. Wenn die Infektionen weiter auf ein höheres Niveau steigen, sei es umso schwieriger, davon wieder herunterzukommen. »Wir müssen zurück in den Lockdown«, betonte am Freitag auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.
Bund und Länder hatten am 3. März »Notbremsen« beschlossen: Wenn in einer Region der Inzidenzwert drei Tage lang über 100 Infektionen pro 100 000 Personen und Woche liegt, muss es wieder diverse Beschränkungen geben, etwa für den Einzelhandel. Doch diese Notbremsen werden nicht immer gezogen und unterschiedlich interpretiert.
Auch beim Präsenzunterricht in Schulen gibt es keine einheitliche Regelung mehr, darüber entscheiden wieder weitgehend die Bundesländer. »Jeder macht, was er will«, sagt Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Einzelne Streitfälle sind in die Medien gelangt. So wollten Dortmund und Duisburg ihre Schulen schließen, doch die Landesregierung erlaubte das vorerst nicht. Jenseits dessen sieht die Fachfrau für Schulen jedoch kleine Fortschritte: Ein Großteil der Kultusminister habe lange Zeit ignoriert, dass sich Menschen in Schulen mit dem Coronavirus anstecken können. Das sei nun endlich vorbei. Nun sind auch Kita-Beschäftigte sowie Lehrkräfte an Grund-, Förder- und Sonderschulen in der zweiten Impf-Priorisierungsgruppe. »Einige sind schon geimpft und wirklich froh darüber«, sagt Hoffmann
Auch einem geregelten Wechselunterricht mit kleineren Gruppen, den die GEW seit langem fordert, würden die Kultusminister nun als Option sehen. Derzeit gebe es etwa an Grundschulen oft Wechselunterricht.
Eine funktionierende Teststrategie gebe es hingegen noch nicht. Zudem müsse künftig die Regel gelten: Ab einer Inzidenz von 100 stellen die Schulen auf Fernunterricht um.
Was auch eine wichtige Entlastung für Lehrkräfte wie Schülerinnen und Schüler wäre: ein Ende der »Stoffhuberei«, bei der von Kindern und Jugendlichen trotz der Pandemie-Ausnahmesituation verlangt wird, den gesamten Lehrstoff zu pauken. Es gebe längst Bildungsstandards, nach denen die Kinder Kompetenzen entwickeln sollen, etwa zu lernen, wie man lernt, wie man Informationen beschafft und einschätzt, betont Hoffmann. Das müsse jetzt umgesetzt werden. Zudem sollte es gerade an Grundschulen weniger Klassenarbeiten, Tests und Prüfungen geben: »Es geht jetzt ums Lernen, nicht ums Abprüfen. Wir müssen schauen, wo die Kinder stehen und sie psychologisch auffangen.«
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