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- Kampf um Impfstoffe
Auch Multis haben eine Heimat
Der Impfstoffkrieg zeigt, welche Sitten derzeit auf dem Weltmarkt herrschen
Die EU liegt in Sachen Covid-19-Impfung weit zurück. Eine Ursache dafür ist der Mangel an Impfstoff, und dieser Mangel trifft nicht – wie üblich – eine arme Region, sondern eine der reichsten der Welt. Die EU-Kommission wird daher kritisiert, bei der Beschaffung des Vakzins zu langsam und zu geizig gewesen zu sein. Zu ihrer Verteidigung wird angeführt, sie habe in gutem Glauben agiert, sei aber von den USA und Großbritannien ausgebootet worden. Was diese Argumente verhandeln, ist lediglich die Schuldfrage. Der Sache nach ist der aktuelle «Impfnationalismus» ein Teil eines Trends, den Ökonomen «Wirtschaftsnationalismus» nennen.
Die Vakzin-Episode zeigt, wie der Weltmarkt funktioniert, welche Sitten hier mittlerweile herrschen – und dass die Erzählung eines übermächtigen globalen Kapitals, dem schwache Nationalstaaten gegenüberstehen, nie gestimmt hat.
Im Großmächtevergleich macht die EU derzeit eine schlechte Figur: Etwa 40 Prozent der Briten sind bereits gegen Covid-19 geimpft worden, ein Viertel der US-Amerikaner – aber nur ein Zehntel der EU-Bürger. Das kostet nicht nur Leben, «auch unser Wohlstand und unsere Wirtschaft hängen von der Geschwindigkeit der Impfung ab», so EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Der Vorsprung der Briten und der USA ist bares Geld wert: «Der Beitrag von zügigen Impfungen auf die Wirtschaftsentwicklung sollte nicht unterschätzt werden», schreibt die Fondsgesellschaft DWS.
Tatsächlich handelte die britische Regierung schneller, sie ließ Impfstoffe früher zu als die EU und schloss früher Lieferverträge mit Pharmafirmen ab. Sie verließ sich dabei insbesondere auf das Vakzin der Universität Oxford. Für Produktion und Vertrieb wollte sich Oxford ursprünglich mit dem US-Konzern Merck zusammentun, berichtete jüngst der britische Sender Sky News. Diesen Deal verhinderte jedoch die britische Regierung, weil sie fürchtete: Wenn die US-Regierung Impfstoff-Exportbeschränkungen erlassen oder Merck unter Druck setzen würde, wäre Großbritannien abgeschnitten.
Oxford wandte sich daraufhin an den britisch-schwedischen Konzern Astra-Zeneca, der der britischen Regierung vertraglich bevorzugte Belieferung zusagte. Bei der Sicherung der Versorgung agierte London also «aus Angst vor US-Präsident Donald Trump», erklärt der US-Journalist Dave Keating.
Nicht ohne Grund: Im März 2020 berichteten Medien von Trumps Versuch, den deutschen Impfstoffhersteller Biontech unter US-Kontrolle zu bringen, um einen Impfstoff exklusiv für die Vereinigten Staaten zu produzieren. Dieser Versuch scheiterte zwar. Doch tat sich Biontech anschließend mit dem US-Konzern Pfizer zusammen. Damit war Washington quasi am Ziel. Denn Pfizer hat enorme Produktionskapazitäten in den USA, die Trump für die heimische Bevölkerung reservieren konnte. Juristischer Hebel dafür war zunächst ein Gesetz aus dem Korea-Krieg, dass inländische Unternehmen zur Lieferung an den Heimatmarkt verpflichtet. Dem folgte im Dezember 2020 Trumps Executive Order, die Pfizer formell zur Bevorzugung des US-Marktes zwang. America-First-Klauseln enthalten auch die Verträge Washingtons mit den US-Pharmakonzernen Moderna und Johnson & Johnson.
Sowohl Washington wie auch London setzten also nicht auf den freien Weltmarkt, auf dem allein der Preis über den Zugang zu Ressourcen entscheidet. Stattdessen zielten sie auf exklusiven Zugriff auf produzierte Impfstoffe. Und diesen Zugriff sicherten sie zum einen durch die Nationalität der Produzenten Astra-Zeneca und Pfizer; und insbesondere die USA zum anderen dadurch, dass die Produktion auf heimischem Boden, unter der Verfügungsgewalt Washingtons stattfindet.
Diese Strategie wurde bei anderen Lieferanten wiederholt: «Es ist entscheidend, dass die Vakzine in den Vereinigten Staaten hergestellt werden. Denn die heimische Produktion ist die einzige Sicherheit dafür, dass Amerikaner Zugang zum fertigen Produkt erhalten», steht in einem der Verträge Washingtons mit dem US-Konzern Moderna.
Die EU dagegen betrat spät die Bühne. Sie hatte es verpasst, Biontech einen europäischen Partner aufzuzwingen und «verhielt sich in der Folge wie ein Käufer auf einem freien Markt», erklärt Keating. «Von heute aus gesehen scheint das naiv.» Zunächst konnte sich Brüssel dank seiner Finanzstärke ebenfalls Millionen Dosen Impfstoff sichern. Da die Entwicklung der Vakzine von Konzernen wie GSK oder Sanofi sich allerdings verzögerte, blieb Europa stark auf Lieferungen durch Astra-Zeneca angewiesen.
Dennoch hätte die Kalkulation Brüssels aufgehen können. Ende Januar aber führten Produktionsprobleme bei Astra-Zeneca zur Kürzung der produzierten Mengen. Und da der britisch-schwedische Konzern sich an die Vereinbarung mit London gebunden sah, entfielen die Kürzungen ganz auf das EU-Kontingent.
Seitdem bleiben Lieferungen in die EU aus und Großbritannien wird bevorzugt beliefert – auch mit jenen Impfstoffen, die in der EU produziert werden. Millionen Dosen aus der EU gehen auch nach Kanada, Japan und Mexiko, da diese Länder wegen des US-Exportstopps auf Europa als Bezugsquelle angewiesen sind. Auf dem EU-Gipfel wurde diese Woche bekannt, dass seit 1. Dezember 2020 aus der Union insgesamt 77 Millionen Dosen ausgeführt worden sind – inklusive der Kontingente aus dem Covax-Programm für ärmere Länder. «Es ist schwer zu erklären, warum in der EU produzierte Impfstoffe an andere Länder geliefert werden», klagte von der Leyen, Laut dem belgischen Virologen Steven van Gucht «scheint es, dass wir uns zu sehr auf den freien Markt verlassen haben. Europa hätte »von Anfang an darauf achten sollen, dass die Produktion auf dem eigenen Territorium und für die eigene Bevölkerung stattfindet«.
So wiederholt sich beim Impfstoff, was in letzter Zeit bei vielen Gütergruppen geschieht: Regierungen verlassen sich nicht länger auf die Kalkulationen multinationaler Konzerne, auf den Weltmarkt und ihre Finanzmacht, sondern denken national. Ob benötigte Güter weltweit erhältlich sind, tritt hinter der Frage zurück, wo sie von wem hergestellt werden.
»Reshoring« heißt das Stichwort, also das Zurückholen von Produktion nach Hause, in den eigenen Machtbereich, geschützt vor den Wettbewerbern. Dafür betreiben die USA, die EU und China Industriepolitik, unter Titeln wie »Made in China« oder »Made in the US« bauen sie heimische Kapazitäten für Batterien, Hochleistungsrechner, Computerclouds oder -chips auf. Ziel ist die Erreichung »strategischer Souveränität«, also die Unabhängigkeit vom Ausland. Mitten im globalen Markt spielen also wieder die Nationalität der multinationalen Konzerne und der Ort ihrer Produktion eine entscheidende Rolle. Denn auch Multis haben eine Heimat.
Die Frage des Produktionsstandortes versucht die EU nun für sich nutzbar zu machen. Sie droht anderen Ländern – insbesondere Großbritannien – mit Exportbeschränkungen für Impfstoffe, und das kann sie allein, weil diese Impfstoffe auf ihrem Territorium hergestellt werden.
Als Begründung wirft Brüssel Astra-Zeneca vor, seine Lieferpflichten vernachlässigt zu haben. Auf dem EU-Gipfel am Donnerstag warnte von der Leyen Astra-Zeneca, dass der Konzern keinen in der EU hergestellten Impfstoff mehr exportieren kann, wenn er die Lieferverpflichtungen gegenüber der EU nicht einhält. »Wir müssen und wollen unseren europäischen Bürgern erklären, dass sie ihren fairen Anteil bekommen«, sagte sie nach dem Treffen. »Ich denke, es ist klar für die Firma, dass sie zuerst die Verträge mit den EU-Staaten einhalten muss, bevor sie wieder an den Export von Impfstoffen denken kann.« Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, Exportbeschränkungen würden künftig »wahrscheinlicher«, wenn Unternehmen ihre Verträge gegenüber der EU nicht einhielten.
Der britisch-schwedische Konzern wiederum hält dagegen, er sei vertraglich zur Bevorzugung Großbritanniens verpflichtet und wird darin von der Regierung in London unterstützt. Welche Rechtsauffassung sich hier durchsetzt, ist abermals eine reine Frage der Macht. Auch von daher mag es wenig verwunderlich sein, dass sich Brüssel mit London anlegt – und nicht mit dem Schutzpatron jenes Konzerns, der bislang die meisten in der EU produzierten Impfdosen nach Großbritannien geschickt hat: dem US-Konzern Pfizer.
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