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- »Komplett Gänsehaut«
»Angst vorm Erben«
Eine literarische Selbstbeschimpfung: Sophie Passmanns Sachbuch »Komplett Gänsehaut« über wohlstandsverwahrloste Mittelschichtkids
Eigentlich sollte man doch denken, über die sogenannte Generation Y - auch als Millennials bezeichnet - ist inzwischen nun wirklich alles gesagt worden. Als guter Millennial könnte man jetzt freilich einwenden: nur noch nicht von allen Millennials. Umso erstaunlicher, dass es einer von ihnen nun tatsächlich gelungen ist, den bereits bestehenden Regalkilometern an Generation-Y-Lektüre noch eine substanzielle hinzuzufügen.
Aber halt: Ist das neue Buch von Sophie Passmann, »Komplett Gänsehaut«, denn überhaupt ein Generationenporträt? Oder ist es nicht vor allem eine Milieustudie »wohlstandsverwahrloster« Mittelschichtkids? Nun, es ist tatsächlich beides. Und dadurch zugleich ein Hinweis darauf, in welchen Milieus derartige Generationenkonzepte ersonnen werden. Passmanns Buch ist allerdings keine nüchterne Analyse, sondern eine literarisch ausgekostete Selbstbeschimpfung.
Und womit sollte diese »anmaßende« Selbstgeißelung einer 27-Jährigen wohl anders beginnen als mit dem legendären »Club 27«, also der illustren Runde von Popstars vornehmlich der 68er-Generation - Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison etc. -, die alle im geradezu obszön zarten Alter von 27 mehr oder weniger unfreiwillig substanzeninduziert das Zeitliche segneten? Doch anders als deren vermeintlich vollständig der Vergänglichkeit des Augenblicks geweihtes Leben - das »It’s better to burn out than to fade away« der Hippies oder das »Verschwende deine Jugend« des Punk - will die heutige Jugend diese lästige Unfertigkeit, diese überallhin (auch ins Jenseits) offenstehende Welt an Möglichkeiten der Adoleszenz so schnell (und so lebendig) wie möglich hinter sich bringen. Nur um dann vom sicheren Hafen einer kuschelig eingerichteten Altbauwohnung mit Stäbchenparkett in einem gerade ausreichend hippen und gleichzeitig spießbürgerlichen Stadtviertel nostalgisch auf die große Anstrengung zurückzublicken, die es mit 27 bedeutete, sich im Supermarkt nicht zwischen echtem (also teurem) Risotto- und ersatzweise billigem Milchreis entscheiden zu können.
Nun will aber Passmanns literarisches Ich noch dazu eine ganz und gar vorbildliche (deutsche) Generationenvertreterin sein und fängt mit dieser Inventur des Lebens schon mal an - die freilich, da vorzeitig, leider nicht verklärend, sondern eher verstörend daherkommt. In drei Teilen kämpft die Erzählerin sich vor, aus der gerade neu bezogenen, »ekelhaft hellen Altbauwohnung« heraus über die »beschämend schöne Straße« bis schließlich in die Stadt, die natürlich nicht die Heimatstadt ist, sondern immer die, in die man es je nach Ausgangsort gerade noch geschafft hat. Das alles ist hervorragend konstruiert, außerordentlich klug und treffsicher beobachtet, noch besser beschrieben, hemmungslos seziert - und dabei vor allem einfach unglaublich witzig.
Doch die Grundspannung des Textes besteht wie gesagt darin, dass hier eine besondere Gruppe als prototypisch für eine gesamte Generation genommen werden soll, obwohl sie eigentlich nur ein ganz bestimmtes Milieu repräsentiert. Und zwar eines, in dem man es sich leisten kann, deshalb »Angst vor dem Erben« zu haben, weil das nach viel zu viel Arbeit und Papierkram klingt. (Und außerdem: »Nazigeld erben ist auch nicht viel weniger schlimm, als Nazi sein.«) Aber es ist eben auch ein Milieu, in dem »nicht die Deutschen etwas mochten, sondern die Deutschen, die besonders deutsch waren, einfach alles für alle anderen mitmochten, und das musste dann reichen«, geprägt von einem »Klassenhass, der nicht weggeht, weil von ihm behauptet wird, dass er gar nicht da sei«.
Denn dass es gleichzeitig sehr viele andere 27-Jährige gibt, die keine Zeit haben, tage- und jahrelang auf Altbauparkett (das sie ohnehin nicht haben) herumzusitzen, auf Partys und an Seen herumzustehen und sich »über die Wichtigkeit von guten Matratzen zu unterhalten«, weil sie nicht, von Papa finanziert, bis 30 irgendwas vermeintlich Selbstverwirklichendes studieren können, sondern seit dem Mittleren Schulabschluss Papas (allerdings nicht ihres eigenen) neue Eigentumswohnung bauen, in Papas künftigem Altersheim ackern oder einfach unser aller Supermarktregale mit Milch- und Risottoreis befüllen müssen - diese Einsicht passt nicht in die geordnet verwahrloste Welt eines Generationenmilieus, das sich für kapitalismuskritisch hält, wenn es überteuerte Biersorten kauft und samstags großzügig beim Biometzger aufrundet.
Diese Verwechslung von (hyperprivilegiertem) Milieu mit einer ganzen Generation, von Kapitalismus mit Kritik, ist bezeichnend für unsere Zeit. Und Passmanns diagnostische Kraft besteht gerade darin, diesen Widerspruch zwar offen auszusprechen - so wie all die kritischen Essays und soziologischen Wälzer, die die Erzählerin und ihre Freunde natürlich in den Bücherregalen stehen haben und die teurer waren als die Fernseher, die sie hätten, wenn sie denn welche hätten -, dabei aber zugleich die Innenperspektive dieses Widerspruchs, wie es sich für eine echte Vertreterin der Generation Selbstbezüglichkeitsschleife (und des Milieus Beamer statt Fernseher) gehört, nie wirklich zu verlassen.
Denn schließlich wohnt die Erzählerin ja auch selbst in einer Straße, in der »vor ein paar Jahren […] Arschlöcher angefangen« haben, »jedes Mal, wenn jemand Pizza gegessen hat, zu erwähnen, dass das ursprünglich mal ein Arme-Leute-Essen war, dieselben Arschlöcher haben dann ein paar Jahre später Pizzerien eröffnet, in denen man Ziegenkäse, Rote Bete und Honig auf Pizza schmeißt, zur Not auch geröstete Pinienkerne - Hauptsache, arme Leute können es sich nicht mehr leisten. […] Wer in Straßen wohnt, in denen es diese Pizzerien gibt, sollte für eine großzügige Dekade einfach mal das Maul halten, so gesamtgesellschaftlich gesehen, das würde einiges voranbringen, da wäre allen mit geholfen.«
Dem kann man nur eifrig zustimmen. Es sei denn, diejenigen, die dann doch nicht das Maul halten, tun das so erkenntnisfördernd und unterhaltsam wie Sophie Passmann.
Sophie Passmann: Komplett Gänsehaut. Kiepenheuer und Witsch. 192 S., geb., 19 €. Als Hörbuch, gelesen von der Autorin, erschienen bei tacheles!/ROOF music.
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