Ohne genaue Kenntnis der Pandemielage

Auch im neuen Infektionsschutzgesetz sind Inzidenzzahlen der zentrale Maßstab für Verschärfung oder Lockerung. Doch die Werte sind kaum noch aussagekräftig

Es waren die Tage nach Ostern, als auch dem letzten Beobachter klar wurde, dass der Inzidenzwert als zentraler Maßstab für das Infektionsgeschehen untauglich ist. Damals übernahm die infektiösere britische Mutante B117 endgültig das Kommando in der Sars-CoV-2-Familie, und auch die privaten Feiertagstreffen sprachen für eine deutliche Zunahme der Covid-19-Fälle. Doch die Zahlen des Robert-Koch-Instituts verkündeten einen Rückgang der Infektionen. Der Grund: Zahlreiche Gesundheitsämter meldeten wegen der Feiertage Fallzahlen mit tagelanger Verspätung - ein Problem, das sich an jedem Wochenende etwas abgeschwächt wiederholt.

Dennoch ist für die hiesige Corona-Politik die Inzidenz nach wie vor der zentrale Maßstab. Wegen des Datenproblems hat man quasi als Krücke den Indikator der Sieben-Tage-Inzidenz gewählt: die Durchschnittszahl der gemeldeten Coronafälle je 100 000 Einwohner. Im Mai 2020 hatten Bund und Länder einen Wert von 50 zum Maß aller Dinge erklärt. Wissenschaftlich begründet wurde die Marke nie. Es hieß lediglich, bei mehr als 50 ließen sich Infektionsketten nicht mehr durchbrechen, da die lokalen Gesundheitsämter die Kontakte nicht mehr nachvollziehen könnten. Doch die Gegebenheiten in den Kommunen sind so unterschiedlich, dass klar war, dass die Zahl willkürlich zwischen den politisch Beteiligten ausgehandelt wurde. Schon damals erklärten einige Virologen, die kritische Marke liege eher bei 35. Andere wiederum forderten, als Maßstab einen Mix aus Inzidenz, Reproduktionswert, Todeszahlen und Krankenhausbelegung zu wählen.

Im Frühjahr 2021 kam die 35 dann doch. Wegen der neu aufgetauchten britischen Mutante setzte Kanzlerin Angela Merkel dies bei einem Bund-Länder-Treffen durch. Um schon bald wieder davon abzurücken: Wegen verstärkter Tests und erster Fortschritte beim Impfen tauchte plötzlich die 100 auf, ab der eine Notbremse zu ziehen sei. Die 50 wurde zur Marke für Lockerungen. Mit den diversen Wechseln machte die Regierung ihren Maßstab noch unglaubwürdiger. Dennoch taucht auch im jetzt beschlossenen Infektionsschutzgesetz wieder eine neue Zahl auf: Ab einem Schwellenwert von 165 in einem Kreis oder einer Stadt müssen die Schulen schließen. Eine lokale Notbremse mit hartem Lockdown samt Ausgangssperre soll es geben, wenn die Inzidenz binnen sieben Tagen an drei Tagen hintereinander über 100 liegt.

Auf ein praktisches Problem dabei weist Alexander Kekulé hin, Virologe an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Ein hoher Inzidenzwert auf lokaler Ebene könne auf einen Cluster-Ausbruch in einer Fabrik oder einer Asylunterkunft zurückzuführen sein, der längst unter Kontrolle ist. Trotzdem müsste ein harter Lockdown kommen.

Es gibt auch generelle Zweifel in der Wissenschaft: »Die Inzidenz ist kein guter Orientierungspunkt für die Lage der Pandemie mehr«, sagt Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Der Grund: »Die Inzidenz entkoppelt sich von der gesundheitlichen Lage.« So führe die starke Zunahme der Testaktivitäten an Schulen zu deutlich höheren Fallmeldungen, aber nicht zu einer erhöhten Krankheitslast. Außerdem gehe in dem Maße, wie die vulnerablen Gruppen geimpft werden, die Zahl der Erkrankungen zurück, aber nicht unbedingt die der Infektionen. Krause hält die Inzidenz zwar für einen wichtigen Wert, plädiert aber für mehrere Indikatoren und ein Stufenmodell. Wenn man sich auf einen Wert festlegen wolle, dann seien die Neuaufnahmezahlen auf Intensivstationen am besten geeinigt. »Sie bilden die Dynamik zeitnah ab und sind ein guter Indikator für die Krankheitsschwere.«

Covid-19-Datenanalysten der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) haben kürzlich ein Verfahren für die Ermittlung eines neuen Schwellenwertes für die Lage auf Intensivstationen vorgestellt. Laut dem Leiter des Statistischen Beratungslabors der LMU, Helmut Küchenhoff, werden dabei die Zahl der Neuaufnahmen - bundesweit sind es derzeit etwa fünf pro 100 000 Einwohner und Woche - und die zuletzt etwas gestiegene durchschnittliche Liegedauer der Patienten berücksichtigt, um die Anzahl der belegten Betten zu bestimmen. Welcher Anteil an der Bettenkapazität für Covid-Patienten reserviert werden sollte, müsse zwar gesellschaftlich festgelegt werden. Die Statistiker haben errechnet: Wenn es 30 Prozent wären, dann läge Nordrhein-Westfalen leicht darunter, Bayern knapp darüber und Thüringen wie Sachsen deutlich drüber. Bei diesem Verfahren könnten laut Küchenhoff auch Verlauf und Prognosen einfließen, was neben dem Grenzwert auch wichtig sei.

Solche Prognosen könnte etwa die Intensivmedizinervereinigung Divi liefern, die seit Wochen vor Grenzsituationen warnt und auf die Überlastung von Ärzten und Pflegekräften hinweist. Der Leiter des Divi-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, kann sich mit dem LMU-Indikator durchaus anfreunden. Er sei nämlich »viel robuster und weniger anfällig für tägliche Schwankungen«.

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