Prophet des Untergangs

Vor 30 Jahren erschien Robert Kurz’ »Der Kollaps der Modernisierung«, eine Abrechnung mit den sozialistischen Versuchen im Osten. Als nächstes sah der marxistische Theoretiker den westlichen Kapitalismus zerfallen

  • Timo Daum
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor bald 30 Jahren, im September 1991, erschien Robert Kurz’ »Kollaps der Modernisierung«. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus war in vollem Gange, und der Kapitalismus hatte auf ganzer Front gesiegt, so schien es zumindest. Kurz pulverisierte derweil in seinem Bestseller mit dem Untertitel »Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie« letzte Illusionen der Linken in Bezug auf den emanzipatorischen Charakter der sozialistischen Länder.

Der 2012 verstorbene Kurz und die von ihm mitgegründete Gruppe Krisis, später dann Exit!, wurden zu wichtigen Impulsgebern für eine ganze Generation von Linken, die Marx jenseits von Klassenkampf und Proletkult als Kritiker der fundamentalen Formen unserer Gesellschaft neu zu lesen versuchten. Der Sozialismus sei gar keine Alternative zum Kapitalismus gewesen, argumentierte Kurz, viel eher ein verkümmerter Seitenweg, dessen Einmündung in den Hauptstrang man um 1990 erleben konnte. Er dechiffrierte sie als feindliche Brüder, verbunden durch das gemeinsame Erbgut der Ausbeutung der Natur und des Menschen im Dienste einer abstrakten Reichtumsvermehrung - privat angeeignet auf der einen, zentral verwaltet und verschwendet auf der anderen Seite.

Kurz unternahm eine furiose Abrechnung mit den Irrationalitäten sozialistischer Planwirtschaft, die die Blindheit und Brutalität des Marktes an Idiotie und militärischer Disziplinierung noch übertrafen. Er erteilte den gängigen Erklärungen eine Absage, der Rüstungswettlauf, finstere Machenschaften der CIA oder die Unfähigkeit der Regierenden hätten Schuld gehabt am Untergang der sozialistischen Ökonomien. Dieser sei jedoch auch nicht als epochaler Sieg des Kapitalismus zu werten, als Beginn einer Ära der unumschränkten Herrschaft und Prosperität des Kapitals, betonte er, sondern vielmehr als Vorbote der Krise der gemeinsamen Grundlage der feindlichen Systeme.

Nachholende Modernisierung

Der Entwicklung in der Sowjetunion attestierte Kurz noch eine gewisse historische Notlage, die extreme Rückständigkeit sei nur mit einer Art sozialistischen ursprünglichen Akkumulation aufzuholen gewesen. Mit drastischen Mitteln wurden die russischen Bauern zu Proletariern, Todesstrafe für zu spät kommen inklusive. Der Realsozialismus gehöre »selbst dem bürgerlichen warenproduzierenden System an und löst nicht diese historische Vergesellschaftungsform durch eine andere ab, sondern stellt lediglich eine andere Entwicklungsstufe innerhalb ein und derselben epochalen Formation dar«, so Kurz.

Robert Kurz sprach von der »identitären Blindheit« gegenüber der Grundlage der abstrakten Reichtumsproduktion in beiden Systemen, die auf der gemeinsamen Basis von Kapitalismus und Sozialismus in der modernen Industriegesellschaft liege. Im Realsozialismus seien die Grundkategorien des Kapitals: Lohn, Preis und Profit (betriebswirtschaftlicher Gewinn) keinesfalls außer Funktion gesetzt worden - geplant wurde in Quanta abstrakter Arbeit. Denn dass die Kapitalisten verschwunden waren, änderte nichts daran, dass der Raubbau an Mensch und Umwelt schonungslos betrieben wurde. Die Arbeit wurde im »Kasernensozialismus« in den Status des Religiösen erhoben. Das Fazit von Kurz war: »Was eine postbürgerliche Zukunftsgesellschaft versprach, entpuppte sich als vorbürgerliches, steckengebliebenes Übergangsregime zur Moderne, als ein saurierhaftes Fossil aus der heroischen Vergangenheit des Kapitals.«

Der »Bonsai-Fordismus«

Schonungslos und streckenweise brillant war Kurz’ Abrechnung mit den katastrophalen Dysfunktionalitäten der DDR-Wirtschaft. Er weist detailliert nach, wie die DDR-Wirtschaft immer weiter in eine Abwärtsspirale von Verschwendung und Mangel zugleich geriet. Die DDR blieb auf dem Niveau der 1960er Jahre stehen, 1989 war die Produktivität des verarbeitenden Gewerbes in der DDR bei rund einem Drittel der BRD angelangt. Kurz räumt gründlich auf mit der Mär von der nur geringfügig schlechteren Produktivität der DDR-Wirtschaft, hielt nichts von dem bis heute gepflegten Mythos, der Westen hätte eine eigentlich produktive Volkswirtschaft mutwillig zugrunde gerichtet.

Kurz analysierte es so: Die Betriebe beliefern sich gegenseitig mit Schrott, greifen auf kriminelle Methoden zurück, um an Material zu kommen, Anreize für Investitionen fehlen, weil der Wert der produzierten Waren vorher festgelegt war. Wegen Mangels an Konkurrenz, Abnahmegarantien etc. fehlen Investitionsanreize, die technische Entwicklung stagniert. »Das logische Resultat des Realsozialismus ist eine umfassende, alle Bereiche durchdringende Mangelwirtschaft, die das gesamte gesellschaftliche und individuelle Leben bestimmt.« Sie brachte es »bestenfalls zu einem bespöttelten Bonsai-Fordismus, in Deutschland symbolisiert durch die mickrigen und stinkenden Zwergmobile der DDR-Autoindustrie«, so Kurz.

Untergang des Gesamtsystems

Den Untergang des Realsozialismus sah Kurz 1991 als Vorboten des Zusammenbruchs der gemeinsamen Grundlage des »warenproduzierenden Weltsystems«, der Westen habe nur einen Pyrrhussieg errungen. »Nach den Zusammenbrüchen der Dritten Welt in den 80er und des Realsozialismus Anfang der 90er Jahre ist nun der Westen selber reif«, schrieb er. »Es ist also zu erwarten, dass die bürgerliche Welt des totalen Geldes und der modernen Ware, deren Logik die sogenannte Neuzeit mit immer aufsteigender Dynamik konstituiert hat, noch vor dem Ende des 20. Jahrhunderts in eine dunkles Zeitalter von Chaos und Zerfall gesellschaftlicher Strukturen eintritt, wie es noch niemals in der Weltgeschichte dagewesen ist.« Diese Zeilen wirken heute, 30 Jahre später, übertrieben apokalyptisch, die allzu apodiktischen Untergangsszenarien haben sich nicht so nicht realisiert. In ihnen deutet sich eine in den folgenden Jahren - in denen er auch Wirtschaftskolumnen für das »Neue Deutschland« schrieb - immer schriller werdende apokalyptische Krisenbeschwörung in Kurz’ Denken an, verknüpft mit immer ungeduldiger formulierten Zusammenbruchsfantasien.

Das vermag aber kaum den unschätzbaren Erkenntniswert zu schmälern, den »Der Kollaps der Modernisierung« im Hinblick auf die Verwandtschaft von Sozialismus und Kapitalismus hervorbrachte. Kurz’ These war, dass der Sozialismus die Ideologie nachholender Modernisierung durch staatliche Akkumulationsregime für die Peripherie der kapitalistischen Weltwirtschaft gewesen sei. Das war zu Zeiten des Ende-der-Geschichte-Siegestaumels der »freien Welt« mutig und radikal, sein Insistieren auf den gemeinsamen Grundlagen von Sozialismus und Kapitalismus zu jener Zeit bahnbrechend und befreiend. Und auch heute kann uns das Buch, etwa bei der Frage, wie China mit seinem sozialistischen Sonderweg einzuschätzen ist, ein Analyseinstrumentarium an die Hand geben.

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