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»Ich habe es nicht für möglich gehalten«

Reinhard Schramm über Antisemitismus heute, Verschwörungsmystiker, »Querdenker« sowie Aufklärung und Abwehr

Professor Schramm, wie fühlen Sie sich als Jude in Deutschland?

Öfter unwohl. Wir haben ein solch aggressives Verhalten in Deutschland und europaweit gegen Juden wie heute nicht mehr für möglich gehalten - ein Dreivierteljahrhundert nach dem millionenfachen Mord der Nazis an den Juden. Die Rechtsextremisten und Antisemiten sind uns geblieben, hetzen und morden weiter. Hinzu kommt - zweitens - der bedauerliche Zustand, dass auch einige Linke, und das tut besonders weh, den jüdischen Staat Israel als eine Art Lebensversicherung für uns Juden in Frage stellen. In unserem Unterbewusstsein ist verankert, dass sich alles Schlimme wiederholen kann. Wir wollen aber nie wieder erfolglos nach Visa betteln müssen, wie zur Zeit unserer Verfolgung durch die Nazis.

Interview

In diesen Tagen vor 76 Jahren wurden die Konzentrationslager auf deutschem Boden von den Alliierten befreit: Sachsenhausen und Ravensbrück von der Roten Armee, Dachau durch US-amerikanische Einheiten und Neuengamme durch britische Truppen. Den größten Anteil unter den Häftlingen machten neben politischen Gegnern des NS-Regimes und Widerstandskämpfern aus den okkupierten europäischen Staaten Menschen jüdischer Herkunft aus.

Wie ist es möglich, dass über ein Dreivierteljahrhundert nach der Befreiung vom Faschismus in Deutschland und Europa Antisemitismus wieder virulent ist? 

Einen Erklärungsversuch unternimmt im Interview mit »nd.Der Tag« Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. 1944 in Weißenfels (Sachsen-Anhalt) als Sohn einer jüdischen Mutter geboren, hat er Elektrotechnik in Polen studiert, als Professor an der Technischen Universität Ilmenau gearbeitet und wurde nach der deutschen »Wiedervereinigung« Leiter des dortigen Landespatentzentrums.

1990 veröffentlichte er seine Erinnerungen »›Ich will leben ...‹ Die Juden von Weißenfels«, das 2001 in einer erweiterten Fassung erschien. Mit dem Professor, Mitglied der SPD, sprach Karlen Vesper.

Drittens sind wir in Europa mit einem militanten islamistischen Antisemitismus konfrontiert. Wir Juden treten für den uneingeschränkten Schutz des Asylrechts ein, wünschen uns aber auch von Seiten des Staates und der Gesellschaft eine verantwortungsvolle Integration von Menschen, die aus muslimischen Ländern zu uns kommen. Und viertens werden angesichts Corona von Verschwörungsmystikern wieder Stereotype und Vorurteile kolportiert wie im Mittelalter, als Juden für die Pest und alles andere Unglück verantwortlich gemacht worden sind. Es sind für mich auch Anhänger von »Querdenkern« beängstigend, die wieder nach Gaskammern rufen.

Es ist also ein Konglomerat von Bedrohungen, das Ihnen Angst macht?

Ja. Und für uns ist es genauso schlimm, wenn eine Rentnerin in Paris erschossen wird wie der Versuch, in der Synagoge von Halle ein Blutbad anzurichten. Judenhass kennt keine Grenzen. Und wir deutsche Juden haben das Gefühl, die Attentate kommen immer näher an uns heran: von Bordeaux über Paris und Kopenhagen nach Halle und Hamburg. Wir sehen Antisemitismus welcher Couleur auch immer als Gefahr an. Er beschädigt unser schönes vereintes Europa, für das wir Juden uns leidenschaftlich engagiert haben, weil wir glaubten, dass damit der Hass auf Juden wie generell gegen Menschen anderer Religion, Kultur oder Lebensart verschwinden wird. Offenbar ein Irrtum.

Linkssein und Judenfeindschaft schließen sich für mich prinzipiell aus. Wird mitunter Antisemitismus und Antizionismus verwechselt?

Leider nein. Ich habe viele Freunde auch in der Linkspartei, etwa Bodo Ramelow. Wenn wir ihn um Unterstützung baten, war er sofort bereit. Während ein Fraktionsvorsitzender der Linkspartei in einer Thüringer Stadt eine Veranstaltung mit der Begründung ablehnte: »Da kommt das Thema Israel hoch.« Ein anderes Mal ging es um ein Denkmal für die ermordete Juden in Thüringen. Ein Genosse meinte zu mir, wir Juden seien reich und könnten das selbst finanzieren.

Starker Tobak, unglaublich!

Ich habe schon als Student in Polen unangenehme Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht, worauf ich nicht vorbereitet war. Ich traf während meines Studiums in Łódź und Gdańsk Polen, die uns jungen Deutschen sehr skeptisch gegenüber waren, andere brachten uns Sympathien entgegen und meinten, Deutschland hätte noch mehr Juden umbringen sollen.

Antisemitismus ist also kein spezifisch deutsches Problem. Und auch nicht nur ein rechtsradikales. Laut Statistiken werden 90 Prozent der Gewalttaten gegen Juden von deutschen und europäischen Rechtsextremisten begangen. Mich beschleicht jedoch die böse Vorahnung, dass sich in 20 Jahren, wenn wir nicht jetzt mehr dagegen tun, der Anteil islamistischer Antisemiten erhöht.

Sind Sie prinzipiell gegen Kritik an Israel?

Man kann und sollte die Politik von Regierungen kritisieren, aber nicht die gesamte Gesellschaft des jüdischen Staates in Haftung nehmen. Dies aber tut die BDS-Bewegung, Boycott, Divestment and Sanctions. Sie ist in meinen Augen auch ein Sammelbecken der verschiedenen Formen des Antisemitismus. Und das begründet ihre Gefährlichkeit. Es geht hier nicht nur gegen den jüdischen Staat, sondern die dort lebenden Menschen und alle Juden. Ich bin froh, dass der Deutsche Bundestag 2019 die Boykottaufrufe gegen Israel verurteilt und die BDS-Bewegung als antisemitisch charakterisiert hat.

Die BDS-Kapagne führt in eine Sackgasse, erhöht die Spannungen, statt sie abzubauen. Die gegenwärtig zu erlebende Normalisierung der Beziehungen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan und Marokko bieten dahingegen eine echte Chance für eine Abkehr von Konfrontation hin zur Zusammenarbeit und zur Annäherung an eine Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts.

Wie ist zu erklären, dass es immer noch Antisemitismus in Deutschland und Europa gibt? Wird in der politischen Bildung und in den Schulen noch zu wenig getan? War die DDR aufklärerisch aktiver?

Die allgemeine Behauptung, dass in der DDR nicht über den Judenmord gesprochen werden durfte, ist Unsinn. Wir haben als Schüler der Goethe-Oberschule in Ilmenau 1961 den Eichmann-Prozess verfolgt. Ich habe dazu mit einer Mitschülerin eine Wandzeitung über die Judenverfolgung gestaltet. Unser Direktor Herr Kessel, später Professor an der Leipziger Universität, hat sich gefreut. Natürlich gab es in der DDR eine starke Überhöhung des kommunistischen Widerstands.

... dem vielfach Juden angehörten.

Es sind meines Erachtens drei Komponenten, die für den latenten Antisemitismus verantwortlich sind. Erstens: Fast 2000 Jahre christlicher Antijudaismus wirken nach. Bis vor 100 Jahren war die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung kirchlich gebunden, hörte auf ihren Pfarrer, wenn er die Juden als Jesus-Mörder bezeichnete, statt sie als ältere Brüder anzusehen. Der christliche Antijudaismus war so stark ausgeprägt, dass sich der Landesbischof Martin Sasse in Eisenach nach der »Kristallnacht« angesichts der brennenden Synagogen bedankte, dass endlich die Wünsche von Martin Luther erhört wurden. Das hat eine gewisse Gleichgültigkeit und Mangel an Solidarität hervorgerufen, als dann die Juden systematisch verfolgt und in die Vernichtungslager deportiert worden sind.

Zweitens: Nach 1945 hat man wie stets bei Katastrophen nach Schuldigen gesucht. Eigene Schuld wollte man nicht eingestehen. Und doch haben viele Deutsche, als sie erfuhren, dass 1,5 Millionen jüdische Kinder umgebracht worden sind, sich geschämt und gefühlt, welch ungeheures Verbrechen das war. Ich glaube, dass sie dies nicht gewollt haben. Aber sie haben es ermöglicht.

Nicht nur durch Schweigen, Wegsehen.

So ist es. Nach dem ersten Schock waren die Deutschen dann wieder mit sich selbst beschäftigt, mit Versorgungsnöten, der Trauer um die eigenen Toten und dem ungewissen Schicksal ihrer kriegsgefangenen Väter, Söhne und Brüder. Und was macht man, wenn die Schockstarre verflogen ist und man keine politische Bildung genießt? Man kehrt zurück zu alten Verhaltensmustern. Da wurden dann wieder antijüdische Vorurteile und Witze kolportiert. Und drittens: Ritualisierung ist tückisch. Nichtwissen ist brandgefährlich. In Deutschland ist viel gemacht worden, auch in der DDR, was allerdings heute nicht gerecht bewertet wird. Ich sorge mich mehr um die Entwicklungen in Österreich, Ungarn und in anderen Staaten, wo Hitlers Satrapen und Helfer saßen. Die Nationalisten und Rechtspopulisten in Europa bestärken heute ihre Gleichgesinnten in Deutschland. Sie sind gut vernetzt. Und diejenigen, die sich bisher noch versteckt oder zurückgehalten haben, werden nun immer frecher und lauter. Selbst im Bundestag. Wir leben in einer sehr beunruhigenden Situation.

Ging und geht die Demokratie zu zaghaft mit ihren Feinden um, mit Antisemiten und Rassisten aller Schattierungen?

Natürlich muss die Bundesrepublik energischer gegen rechte Gewalttäter und Antisemiten vorgehen. Aber auch gegen falsche Ideologien und Ideologen in der Mitte der Gesellschaft, die sich sogar in der Kulturlandschaft tummeln. Die AfD und deren Anhängerschaft sind ernst zu nehmen, aber sie sind nicht die einzigen, die uns Angst machen.

2021 steht unter dem Zeichen »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. Sie stammen aus Weißenfels, einer alten jüdischen Gemeinde. Die ersten Juden sollen sich dort schon im 11. Jahrhundert angesiedelt haben.

Die Nazis haben die Stadt »judenfrei« gemacht. Einige konnten rechtzeitig emigrieren, andere, darunter viele aus meiner Familie, wurden in die Konzentrationslager deportiert und ermordet.

Nur sieben der deportierten Weißenfelser Juden sollen die Shoah überlebt haben, nur vier kehrten nach Deutschland zurück.

Für die konträren Haltungen von Juden zu Deutschland nach der Shoah mögen zwei Mitglieder der Weißenfelser Gemeinde stehen, die noch rechtzeitig emigrieren konnten. Ernst Levi ging 1933 als 23-Jähriger nach Palästina, wo er sich im Jordantal einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, dem Kibbuz Daganiah, anschloss. Er wurde Jurist, nannte sich in Benjamin Halevi um und führte mehrere bedeutende Prozesse gegen NS-Verbrecher, der spektakulärste war der 1961 gegen Adolf Eichmann, wo er Richter war. Meiner Mutter schrieb er 1989 im Kontext politisch-diplomatischer Zwänge: »Du hast recht, ich habe damals den Nazi Globke beim Namen genannt. Darum wollte man mich beinahe als ›voreingenommen‹ vom Eichmann-Prozeß ausschließen.« Seine Einstellung zu Deutschland beschrieb er mit den Worten: »Ich bin seit 1933 weder an deutscher Literatur noch an Deutschland überhaupt interessiert, so viel ist zwischen uns gefallen.«

Anders hingegen Alfred Scheyer, ebenfalls ein Weißenfelser. Er war 1935 mit seiner Mutter nach Palästina geflohen, lebte und arbeitete zunächst ebenfalls in einem Kibbuz, bevor er in die Nähe von Haifa in der Exportabteilung einer Textilfabrik eine Anstellung fand. Als 1939 der Krieg ausbrach, wurde er britischer Soldat. Er schrieb 1961 über sein »verlorenes« Weißenfels: »Und Heimat ist Heimat, was auch immer in all den Jahren Bitteres und Entsetzliches geschehen sein mag, das Interesse daran kann nicht erlöschen ... Welche Sehnsucht habe ich nach dem Thüringer Wald.«

Sie wurden 1944 geboren und sind wie Ihre Mutter nur knapp den mörderischen deutschen Antisemiten entgangen.

Mein Vater hat sich trotz Drängen der Nazis nicht von meiner Mutter scheiden lassen und damit ihr und mir das Leben gerettet. Er war Lehrer, man hat ihn mit einer Stelle als Rektor am Gymnasium zu korrumpieren versucht. Er ließ sich nicht darauf ein und hat nur noch als Hilfskraft arbeiten können. Kurz vor Kriegsende, im Februar 1945, sollten auch meine Mutter und ich deportiert werden. Mein Vater hat das rechtzeitig erfahren. Eine befreundete kommunistische Familie aus Weißenfels, die Sperbers, haben meine Mutter und mich bei sich aufgenommen und bis zur Befreiung versteckt.

Herr Schramm, Sie haben über viele Jahre rechte jugendliche Straffällige in den JVA Ichtershausen, Weimar und Arnstadt aufgesucht und mit ihnen gesprochen.

Nach dem Brandanschlag auf unsere Erfurter Synagoge am 20. April 2000. Regelmäßig monatlich seit 2004 bis vergangenes Jahr. Und nach Corona werde ich dieses Projekt gern wieder aufgreifen.

Wie konnten Sie dies angesichts ihres familiären Hintergrunds über sich bringen?

Mein Sohn ist mit 17 in der DDR das erste Mal aus politischen Gründen inhaftiert worden. Ich habe erlebt, wie er litt. Bei seiner zweiten Verhaftung haben wir regelrecht gebettelt, ihn in den Westen ziehen zu lassen. Er war 19. Wir hatten ihn kurz vor Weihnachten besucht, uns war das Herz schwer bei seinem Anblick. Zwei Monate Einzelhaft können junge Leute viel schwerer verkraften als Erwachsene. Ungefähr 17 und 19 Jahre alt waren auch die Jugendlichen, die den Brandanschlag auf unsere Synagoge verübt hatten. Sie wollten zu Hitlers Geburtstag ein Zeichen setzen. In meinen Augen sind sie fehlgeleitet gewesen, haben sich mit den falschen Leuten eingelassen. Ich glaubte nicht, dass sie grundböse Menschen sind, sondern unwissend. Deshalb habe ich um Gespräche mit ihnen im Gefängnis ersucht und diese mit anderen rechten jungen Straffälligen fortgeführt.

Hatten Sie Erfolg?

Ich hatte das Gefühl, sie in den anderthalb bis zwei Stunden wenigstens zum Nachdenken angeregt zu haben. Sie sind mit einer gewissen Arroganz in den Besucherraum reinspaziert: »Okay, hören wir uns den Arsch an. Besser als nur in der Gefängniszelle zu hocken.« Sie verließen den Raum in einer eher devoten Haltung. Ich denke, es lohnt sich, um jeden jungen Menschen zu kämpfen und sie nicht Antisemiten und Rassisten zu überlassen. Wenn wir uns nicht um die Jugend bemühen, sieht die Zukunft noch düsterer aus, könnten wir einen Rückfall in Terror, Mord und Unmenschlichkeit erleben.

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