Der bunte Plastik-Pop ist tot

Gebt mir eine Monstera und Selbstermächtigung!

An einem verkühlten April-Abend lag ich unter einer Wolldecke auf dem Sofa und tauschte mit einer Freundin Sprachnachrichten auf Instagram aus. Mein Internet sponn mal wieder herum und so musste ich mir mit Relikten aus alten Zeiten die Zeit vertreiben – in diesem Fall: DVDs und klappriges 3G-Internet. Der Fernseher spielte Bilder ab, die ich seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hatte.

»Ich gucke grad «Men in Trees» mit Anne Heche, diese Serie von 2006, die wir damals ganz süß fanden«, lachte ich ins Handy. »Es ist so ABSURD. Anne Heche zieht in dieser Serie nach Alaska, sucht verzweifelt einen Mann und läuft die ganze Zeit in Mini-Rock und Stöckelschuhen durch die Gegend, durch den Schnee, ohne Strumpfhose! Warum haben wir damals nicht bemerkt, wie BEKLOPPT das ist?« Wir lachten uns durch die Sprachis und waren gleichzeitig ein bisschen traurig und entsetzt. Traurig, weil geschätzte Relikte aus unserer Jugend sich im Licht der Gegenwart als größtenteils problematischer Nonsense entpuppten. Entsetzt, weil wir eigentlich davon ausgingen, dass wir schon vor über einem Jahrzehnt progressiv und feministisch waren – tatsächlich aber anscheinend doch noch nicht so viel auf dem Schirm hatten.

Nadia Shehadeh
Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des "Missy Magazine", außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Für "nd" schreibt sie die monatliche Kolumne "Pop-Richtfest".

Man soll mich nicht falsch verstehen: Ich persönlich finde Mini-Röcke super, Stöckelschuhe ebenfalls, aber eine Anne Heche, die auf Stöckelschuhen slapstickartig durch den Schneematsch Alaskas geschickt wird, um den »male gaze« zu befriedigen, hat auf jeden Fall nichts mit Selbstermächtigung zu tun. Selbstermächtigung – das ist zum Beispiel eine Billie Eilish, die in der VOGUE verkündet, dass sie anzieht was sie will, wann immer sie will – und dass das gefälligst niemand zu kommentieren habe.

»Ich glaube, alles was wir damals geguckt haben ist aus heutiger Sicht richtig scheiße«, sagte ich der Freundin. »Ich will «O.C., California» nochmal gucken«, meldete sie zurück. »Aber ich trau mich nicht. Ist bestimmt auch aus heutiger Sicht richtig schlimm.« Ich seufzte: »Oh Gott, ja. Ich traue mich auch nicht es zu gucken. Ich liebe O.C.. Ich darf es mir nicht mit dem Wissen von heute verderben.«

Der Mai kündigte sich an und ich begann meine Wohnung zu renovieren – und ordentlich zu »decluttern«, wie es im Fachjargon heißt. Freund*innen haben meine Wohnung oft liebevoll Popkultur-Museum genannt, aber als ich in diesen Tagen meine ganzen Reliquien von A nach B packte und bei manchen über Entsorgung oder Verkauf nachdachte, kam ich mir vor wie eine Pre-Boomerin – und wie ein Umweltschein mit Sammelwahn. Hello Kitty-Zahnputzbecher, Planet der Affen-Actionfiguren, Clueless-Anstecker, eine sündhaft teuere Blythe-Sammlerpuppe, My Little Pony-Kaffeetassen – ich erkannte, dass ich gleichermaßen hängen geblieben und alt geworden war.

Ich versuchte mir einzureden, dass ich eigentlich auf dem Weg war, eine Wohnung wie die von Amy Sedaris zu haben – bunt, poppig, ikonisch. Spätestens aber, als ich meine CD-Sammlung durchging, war klar: Ich lebte tatsächlich in einem Museum, umgeben von längst ausgestorbenen Phänomenen. Ich packte verschämt und eilig alte Katy Perry-CDs in eine Verkaufskiste und fragte mich, wie in den letzten, nicht mal 15 Jahren, knallbunter Plastik-Pop von einem Massenphänomen zum Nischenprodukt werden konnte.

Abends scrollte ich für Einrichtungsinspirationen durch die Sozialen Netzwerke und YouTube-Videos. Überall, sei es auf Instagram oder auch in koreanischen Vlogs, plätscherte mir beruhigender, natur- oder allenfalls pastellfarbener Boho-Style entgegen, mit wunderschönen Pflanzen, vielleicht noch ein paar Elementen in mattem schwarz. Ich betrachtete meine ausufernde Taschensammlung: Der Jutebeutel, der mit der 80er Jahre Mangaserien-Heidi bedruckt war und eine Tasche, auf die ich das Konterfei der Europop-Ikone Leila K. drucken gelassen hatte, und wusste: Den Zug der zurückhaltenden Farben hatte ich verpasst. Die Blätter meiner Pilea wurden hellgrün, und als ich mich durchs Pflanzen-Insta wühlte, um zu erfahren was ich bei der Pflanzenpflege falsch machte, kam mir kurz der Gedanke: War ich vielleicht einfach unfähig, mich in diese neue Welt zu integrieren?

Irgendwann ging das Internet wieder. Mit ordentlich Nachholbedarf daddelte ich gleichzeitig an mehreren Geräten herum, spielte im Online-Modus auf meiner (immerhin pastellfarbenen) Nintendo-Switch und schaute währenddessen Kram auf YouTube in der Zufallswiedergabe – als mir plötzlich »Welcome to the OC, Bitches!« vorgeschlagen wurde. Ein neuer Video-Podcast, in dem »O.C., California«-Erfinder Josh Schwartz gemeinsam mit Schauspieler*innen der Serie alte Episoden anschaut und kommentiert. Und mehr noch als die zauberhafte Rachel Bilson und die legendäre Melinda Clarke, die sich in der ersten Podcast-Folge die Ehre gaben, entzückte mich der Hintergrund: Schwartz und Bilson saßen vor einem Regal, in dem neben allerlei pastellfarbenen Kram, Büchern und Pflanzen zwei Relikte der alten Zeit friedlich mit der klassischen, reduzierten 2021er-Deko koexistierten: »Captain Oats« und »Princess Sparkle«, die legendären Spielzeug-Plastik-Ponys aus der Reihe Appaloosa/Breyer beziehungsweise My little Pony/Hasbro von Seth und Summer aus der Serie. Ich war glücklich. Ob ich mir aber einen O.C.-Rewatch antun kann? Das weiß ich noch nicht.

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