Aufruhr im Arbeiterviertel
Jacques Offenbach war in der DDR sehr beliebt. Nirgendwo sonst wurde »Die schöne Lurette« derart gefeiert. Nun gibt es die Radioaufnahme von 1959 komplett auf CD
Es gibt Social-Justice-Krieger*innen, die für den Kanon der Kulturgeschichte eine überprüfte Zusammenstellung fordern, die den Idealen der »Woke«-Bewegung entspricht und die Ausgrenzung von Minderheiten umkehren soll. Teilweise sollen diejenigen, die »Macht« missbraucht haben, aus dem Kanon entfernt werden. Mit ähnlichem Furor gingen in der jungen DDR Anfang der 50er Jahre die Kulturverantwortlichen vor, auch in Bezug auf die spätbürgerliche Operette. Es sollte geprüft werden, welche Werke aus dem Kanon für die neue sozialistische Theaterlandschaft im Osten Deutschlands passen könnten. Man suchte nach Werken, die der Utopie eines postrevolutionären Arbeiter- und Bauerstaates entsprachen.
Fündig wurde man bei Jacques Offenbach (1819-1880). Hatte er nicht in seinen berühmten Werken die Obrigkeit aufs Schärfste kritisiert und Staatsoberhäupter beißender Satire ausgesetzt? Hatte er nicht bourgeoise Moralkonventionen wieder und wieder verlacht? Und gab es nicht von ihm unzählige Stücke mit »einfachen« Figuren aus dem Volk, die »denen da oben« zeigen, wer cleverer ist? All das wurde nun zum Beleg der Eignung des »Genossen Offenbach« fürs Repertoire herangezogen. Offenbach wurde in der DDR zum Operettenklassiker Nummer 1 - dem dekadenten Johann Strauss und seiner Wiener Walzerseligkeit weit vorzuziehen.
In den folgenden Jahrzehnten erlebten etliche Offenbach-Werke glanzvolle DDR-Produktionen. Die bekannteste ist Walter Felsensteins »Ritter Blaubart« an der Komischen Oper in Berlin, bis 1992 im Repertoire des Hauses, insgesamt 369 Mal aufgeführt, 1973 als Film für die Ewigkeit festgehalten.
Weniger bekannt ist, dass »Die schöne Lurette« eine singuläre DDR-Karriere machte. Denn dieses letzte Offenbach-Bühnenwerk von 1880 erlangte nirgends sonst auf der Welt eine solche Bekanntheit, anders als die zeitgleich komponierte Oper »Hoffmanns Erzählungen«. Für Musiktheaterschaffende der DDR war das Stück über aufsässige Pariser Wäscherinnen, die die Freuden des Arbeitslebens besingen und in den 1760er Jahren auf die Straße gehen, um gegen das skandalöse Verhalten des Adels zu protestieren, genau richtig. Als Defa-Film, 1960 in der Regie von Gottfried Kolditz, wurde daraus mit drei Millionen Zuschauern einer der populärsten ostdeutschen Kinofilme überhaupt, der auch auf DVD zu bestaunen ist.
Schon ein Jahr zuvor, Anfang 1959, entstand in Leipzig eine Rundfunkproduktion der »Lurette« in deutscher Sprache. Es ist die weltweit erste Gesamtaufnahme des Werks. Ausschnitte kursierten später als Amiga-Schallplatte, doch nach der Wende wurden solche Querschnitte vergessen und nie auf CD veröffentlicht. Umso bemerkenswerter, dass sich kürzlich der Berliner Musikjournalist Matthias Käther die Mühe machte, die originalen Rundfunkbänder zu suchen, um die Leipziger »Lurette« mit allen Erzählerpassagen auf CD zu veröffentlichen. Das erlaubt eine Begegnung mit einer Musiktheaterszene, über die heute nur noch wenig bekannt ist. Und eine Wiederbegegnung mit Publikumslieblingen, deren Namen im Westen nie Bekanntheit erlangten, zum Beispiel Tenor Frank Folker von der Komischen Oper oder Hella Jansen in der Titelpartie vom Metropol-Theater. Außerdem dabei ist Lutz Jahoda, später Moderator der Sendung »Der Wunschbriefkasten«. 1959 war er frischgebackener Buffo an der Leipziger Oper.
Das Stück handelt von der Wäscherin Lurette. Ihre Schönheit ist sogar Ludwig XV. aufgefallen, und so soll der Herzog von Marly sie während des Karnevals in einer fingierten Hochzeit zur Frau nehmen, um sie anschließend bei Hofe einzuführen - als Mätresse. Als Lurette erkennt, dass sie quasi als Liebessklavin verhökert werden soll vom Herzog (der sich davon einen Schuldenerlass vom König erhofft), schlägt sie wild um sich. Sie entlarvt die moralische Scheinheiligkeit des Ancien Régime und verweigert sich. Zu Hilfe eilen ihr dabei ihre Freundinnen aus der Wäscherei sowie die Handwerker aus ihrem Viertel, aber auch die Soldaten, die hier auf der Seite des »Volkes« sind. Das Ganze endet nicht blutig, wie die Pariser Kommune 1871, aber der revolutionäre Geist ist deutlich zu spüren.
In Offenbachs Urfassung finden Lurette und der Herzog im 3. Akt nach einer intimen Aussprache wieder zueinander als echte Eheleute, die Wäscherin bleibt also Herzogin. In der Filmversion der Defa entscheidet sie sich für den Zimmermann Campistrel und findet mit ihm ein Happy End, was den Idealen des sozialistischen Realismus entspricht. In der Rundfunkaufnahme unter Dirigent Gottfried Kassowitz hält man sich an die Urfassung, die übrigens Leo Delibes kongenial orchestriert hat, weil Offenbach über der Fertigstellung starb.
Der Klassenkampf ist in ein lebensfrohes Sittengemälde der Zeit eingebettet. Aber genau diese Lebensfreude macht dieses Operettenprodukt so typisch für die DDR. Natürlich verstand das Publikum damals genau, was mit dem zwielichtigen Hofmeister des Herzogs los ist, der jedes Detail über Menschen in seiner Umgebung für die »Statistik« aufschreibt und von Offenbach ein »Couplet de la statistique« bekommt. Auch die restliche Partitur lohnt das Kennenlernen, von den spritzigen »Pitsch! Patsch!«-Chören der Wäscherinnen über Verbrüderungslieder mit den Soldaten bis hin zu einer umwerfenden Parodie auf »An der schönen blauen Donau«.
Als Bonus-Tracks gibt es Ausschnitte aus der französischen Gesamtaufnahme, die 1965 entstand. Sie ist prominent besetzt mit Lina Dachary, aber bei Weitem nicht so energiegeladen, wie die Leipziger Produktion, wo man offensichtlich etwas mitzuteilen hatte und nicht nur hübsch singen wollte. Umso bedauerlicher, dass die CD recht bieder verpackt daherkommt. Käther hatte überlegt, eine weitere Offenbach-Aufnahme aus Leipzig herauszugeben, die 1955 entstandene Rundfunkproduktion von »Die schöne Helena«. Wegen Corona sei das Projekt jedoch auf Eis gelegt worden, sagt er. Man wird also noch etwas warten müssen.
Jacques Offenbach: »Die schöne Lurette«, Gesamtaufnahme in deutscher Sprache, 2 CDs (Relief)
»Die schöne Lurette«, Regie: Gottfried Kolditz, DDR 1960, 82 min, DVD (Icestorm)
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