100 Tage Ultimatum

Berliner Krankenhausbeschäftigte fordern mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen - für alle Klinikmitarbeiter bundesweit

  • Mischa Pfisterer
  • Lesedauer: 4 Min.

Felix Bahls reicht es. Bahls arbeitet bei der Labor Berlin GmbH, einer Tochter von Charité und Vivantes. »Wir fühlen uns wie Beschäftigte zweiter Klasse«, klagt er. »Das muss aufhören.« Labor Berlin ist nur eine der Töchter, die Anfang der 2000er Jahre ausgegliedert wurden - ebenso wie die Reinigung, der Patient*innentransport, die Wäscherei oder die Speiseversorgung.

»Damit hat man die Situation erzeugt, dass Altbeschäftige nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Diensts (TVöD) bezahlt werden und die Neubeschäftigten zu deutlich schlechteren Bedingungen eingestellt werden«, sagt Maike Jäger, Verdi-Fachbereichsleiterin Gesundheit und Soziales. Am Dienstagnachmittag steht die Gewerkschafterin zusammen mit Berliner Pflegekräften, Laborant*innen und Beschäftigten des Reinigungspersonals der Kliniken Charité und Vivantes vor dem Roten Rathaus und ruft den Arbeitskampf aus.

Von Berlin ausgehend wollen sie nun endlich Lösungen für den herrschenden Personalnotstand sowie ein Ende der unbefriedigenden Arbeitsbedingungen und häufig ungerechter Bezahlung finden. Dazu gründen sie nun die Berliner Krankenhausbewegung. »Wir fordern am Tag der Pflege die Arbeitgeber zu Tarifverhandlungen auf und wollen unsere Entschlossenheit zeigen«, sagt Jäger. 15 000 Beschäftigte der beiden Häuser hätten dazu in den letzten Wochen eine Petition unterzeichnet. Diese wird am Mittwoch an den Berliner Senat überreicht. Diesem sowie den Klinikleitungen wird überdies ein 100-Tage-Ultimatum gestellt, die Forderungen zu erfüllen. Sonst droht Streik - vier Wochen vor den Wahlen.

»Ich habe Kollegen, von denen ich weiß, dass sie explizit mehr verdienen als ich«, berichtet der Laborangestellte Bahls. Das können schon mal 800 Euro im Monat mehr sein. Für die gleiche Tätigkeit. Für die gleiche Arbeit. Das soll sich ändern. Der neue Tarifvertrag soll für alle Beschäftigen gelten - auch für die der Tochterunternehmen. »Denn auch meine anderen Kollegen leisten wichtige Arbeit für das Wohl des Patienten und deshalb fordern wir mit den anderen Tochterunternehmen den Tarifvertrag für alle, weil gleiche Arbeit auch gleiche Bezahlung verdient«, betont Bahls.

Neben ihm kämpft auch die 30-jährige Intensivkrankenschwester Jeannine Sturm für den Tarifvertrag. »Meine Kolleginnen und ich wollen einfach nie mehr erleben, dass Patienten unter unserer eigenen Verantwortung, nur wegen unserer Unterbesetzung, noch zusätzlichen Schaden nehmen.« Sturm berichtet von den nur schwer für sie und ihre Kolleg*innen zu leistenden Herausforderungen an der Charité. »Das alles, obwohl wir sei 2015 einen Tarifvertrag haben, der Personalregeln vorgab«, so die Krankenschwester. »Allerdings werden die Regeln einfach ignoriert, weil keine Sanktionen vorgesehen sind.« Vor sechs Jahren waren die Pflegekräfte an der Charité die ersten, die den Personalmangel in den Mittelpunkt eines unbefristeten Arbeitskampfes stellten und damit zum Vorbild für eine bundesweite Tarifbewegung an Kliniken wurden. Nun wollen sie nachsteuern und bis zur Abgeordnetenhauswahl im September eine tarifvertraglich garantierte Entlastung der Pflegekräfte erreichen. »Das Land Berlin muss mehr Verantwortung für die landeseigenen Unternehmen übernehmen«, fordert Gewerkschafterin Jäger. Bundesweit seien mittlerweile 17 Krankenhäuser dem Berliner Tarifvertrag von 2015 gefolgt. Etwa an der Uniklinik in Jena. Dort wurde im März 2020 ein Tarifvertrag unterzeichnet. Ellen Ost arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Fachkrankenschwester am Uniklinikum Jena. Es sei ein Unterschied, ob sie neun Patient*innen betreue oder wie früher 13 bis 19. »Ich habe wieder Zeit für ein Gespräch, ich kann wieder pflegen und ich hetze nicht mehr von einem Zimmer zum anderen.«

Mehr Zeit für ihre Patient*innen - das wünscht sich auch Silvia Habekost. Sie arbeitet seit 1999 als Anästhesiepflegefachkraft im Vivantes Klinikum im Friedrichshain. Habekost gehört zu den Initiatorinnen der Berliner Krankenhausbewegung, ist seit 1991 Mitglied bei Verdi. »Für mich und meine Kolleg*innen ist die Bewegung, die wir jetzt starten, eine riesige Chance, dass wir unsere Arbeitsbedingungen deutlich und verlässlich verbessern.«

Studien geben der Forderung Recht. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen sind Menschen in Pflegeberufen überdurchschnittlich oft und auch länger krankgeschrieben. Die Techniker Krankenkasse hat 2019 die Gesundheit von Pflegekräften untersucht. Eine große Rolle spielen psychische Erkrankungen: Fast jeder fünfte Fehltag hatte solche Ursachen. Und rund 40 000 Stellen waren seinerzeit der Studie zufolge nicht besetzt. »Es ist ein Mythos, dass es einen Fachkräftemangel gibt, es ist eine Berufsflucht«, betont Habekost. »Das Argument, dass es einen Fachkräftemangel gibt, ist das Argument derer, die nichts ändern wollen.« Der Pflegenotstand in den Krankenhäusern sei nicht entstanden, weil es zu wenig Pflegekräfte gibt.

Oberkante Untergrenze. Eine faire und realistische Bemessung von Pflegepersonal scheitert weiterhin am politischen Willen

Laut einer Studie der Hartmann-Gruppe, einem der größten Hersteller von medizinischem Material, kann sich die Hälfte der ehemaligen Pflegekräfte, die aus dem Beruf ausgestiegen ist, vorstellen, in ihren Beruf zurückzukehren. Voraussetzung hierfür: bessere Arbeitsbedingungen. Die Pflegekräfte der Berliner Krankenhausbewegung sehen das ähnlich. Oft gehe es nur um den optimierten Betrieb. »Patient*innen werden als Störfaktor gesehen«, sagt Habekost. »Die Menschen gehören in den Mittelpunkt unseres Handelns - und wir brauchen genug Personal, um ihnen gerecht zu werden.«

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