Ein Mann, der nicht wohnen kann

In »Levys Testament« beschäftigt sich Ulrike Edschmid wieder mit den Hoffnungen der 1970er

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Berliner Autorin Ulrike Edschmid schreibt autobiografisch geprägte Romane. In »Die Liebhaber meiner Mutter« (2006) etwa geht es um ihre Mutter, die in der Nachkriegszeit alleine ihre Kinder aufzog. In »Das Verschwinden des Philip S.« (2013) schrieb sie über ihren Schweizer Freund Werner Sauber, der sich in Westberlin der Bewegung 2. Juni anschloss und im Kugelhagel der Polizei starb. In ihrem neuen Roman »Levys Testament« steht nun ihr englischer Freund aus den 1970er Jahren im Zentrum.

Dass Edschmid diesen Freund durchgängig als »der Engländer« bezeichnet, wirkt zunächst befremdlich. Aber man gewöhnt sich schnell daran. Wie bei Kafkas »K.« handelt es sich wohl um den Versuch, eine Distanz zu jemandem herzustellen, der einem als Romanautor*in zu nahe steht. Bei Kafka war es die eigene Person, bei Edschmid ist es der Freund. Gleichzeitig drückt der abstrakte Begriff eine Gesellschaft aus, die von Technik und Bürokratie geprägt ist, in der das Abstrakte immer stärker das Konkrete und Individuelle prägt.

Kennengelernt hat die Erzählerin den Engländer im Winter 1972 auf einer Reise nach London zu einem Underground-Film-Festival. In der Wohnung, in der sie übernachtete, gingen Aktivisten der militanten anarchistischen Gruppe »Angy Brigade« ein und aus. Es war die Zeit der IRA-Bombenanschläge, die, ähnlich wie die Aktionen der RAF in Westdeutschland, zu einem gesellschaftlichen Klima des Mißtrauens, der gesteigerten Repression und der Terror-Hysterie führten - und zu zahlreichen Gerichtsprozessen gegen angebliche Sympathisanten auf Grundlage von oft nur fadenscheinigen Indizien.

Acht Mitglieder der Angry Brigade, vier Frauen und vier Männer, waren damals angeklagt, und die Erzählerin und ihr Freund versuchen, ihnen mit Solidaritätsaktionen vor und während des Prozesses den Rücken zu stärken. Dann muss sie zurück nach Berlin, wohin ihr der Engländer nach einer Phase der Fernbeziehung folgt. Eine Zeit lang lebt das Paar mit Edschmids Sohn aus erster Ehe in Frankfurt am Main, wo sie sich im »Häuserkampf« der Spontis, der ersten Hausbesetzerbewegung, engagieren. Der Engländer arbeitet zudem in einer Fabrik und versucht, die Arbeiter zu agitieren. Als nach sechs Jahren die Beziehung zerbricht, zieht Edschmid zurück nach Westberlin, bleibt aber mit dem Engländer befreundet.

»Eigentlich kann er nicht wohnen«, schreibt sie. »Er weiß nicht, wie man das macht. Er hat es nie gelernt, es ist ihm nicht mitgegeben worden.« Er ist in armen Verhältnissen in einer jüdischen Familie im Londoner Stadtteil Tottenham aufgewachsen. Die Erzählerin hatte angenommen, er würde nach der Trennung nach London zurückkehren. »Aber er bleibt in Deutschland, in unauflösbarem Widerspruch. Die Worte seiner Mutter haben ihn eingeholt: ›Du wirst nie dazugehören. Du bist Jude und wirst es immer bleiben.‹ Der Satz hatte nicht haltgemacht vor den beiden Zimmern in Kingsbury, in denen er seine Kindheit verbrachte. Sie waren ebenso wenig jemals ein Zuhause für ihn, wie es unsere Wohnung in Frankfurt gewesen war.«

Doch es ist nicht nur seine jüdische Herkunft, die ihn zum Heimatlosen macht. Sein Vater, den Edschmid als freundlichen Mann kennenlernt, schweigt über die Vergangenheit seiner Familie; ein Schweigen, das dem Engländer »den Boden unter den Füßen« wegzieht. Seine Versuche, mit einer anderen Frau eine Familie zu gründen, scheitern. Als eine unbekannte Cousine Kontakt mit ihm aufnimmt, ist er bereits ein international anerkannter Regisseur, der von Theater zu Theater reist. Als sie Licht in die Dunkelheit seiner Familiengeschichte bringt, beginnt er zu begreifen, warum sein Vater bis zu seinem Tod geschwiegen hat.

»Levys Testament« ist ein berührendes Buch, in dem Ulrike Edschmid mit großer Sensibilität eine Lebensgeschichte erzählt, deren Bedeutung über das Individuelle hinausgeht. Ein melancholisches Buch, das gleichzeitig das Lebensgefühl, die Hoffnungen und Enttäuschungen einer ganzen Generation Anfang der 70er Jahre vermittelt. Es ist ihr abermals ein eindrucksvoller autobiografischer Roman gelungen, in dem sich - wie sie in einer Schlussbemerkung schreibt - alles so oder ähnlich ereignet hat, jedoch »keine Person und kein Geschehnis mit der Wirklichkeit gleichzusetzen« sei.

Ulrike Edschmid: Levys Testament. Suhrkamp, 144 S., geb., 20 €.

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