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Impfe sich, wer kann
Die Risikogruppen sind noch lange nicht geschützt, doch es gibt Terminprobleme. Das Gedrängel nimmt zu
»Ich möchte mich ja gerne impfen lassen, aber ich komme nicht ran.« Dem Verkäufer an der Kasse in einem Discounter in Berlin-Tempelhof geht es wie vielen. Als Beschäftigter im Lebensmitteleinzelhandel gehört er zwar zur dritten Priorisierungsgruppe, doch er versucht, wie er schildert, seit Tagen vergeblich, einen Termin in einem der Impfzentren der Hauptstadt zu ergattern. »Beim Hausarzt habe ich mich auch angemeldet, aber die haben eine lange Warteliste.« Auch da ist unklar, wann er drankommt.
Es gibt einen Stau beim Impfen - gerade für die eigentlich Priorisierten. Seit Mitte Mai ist die Gruppe drei an der Reihe, zu der immerhin 10,5 Millionen Bürger gehören. Dazu zählen vor allem die 60- bis 69-Jährigen, hinzu kommen Patienten mit diversen chronischen Erkrankungen sowie bestimmte Berufsgruppen wie Polizei oder eben der Lebensmittelhandel. Die Vakzine sind in Relation zur Nachfrage aber nach wie vor knapp, und in den Impfzentren gibt es derzeit ein besonderes Problem: Hier sind aktuell und auch noch in den nächsten Wochen vor allem Zweitimpfungen an der Reihe. Da die Politik es ablehnt, die Termine für die sogenannte Booster-Impfung nach hinten zu verlegen, und die Fristen eher noch verkürzt, sind jetzt alle die an der Reihe, die schon eine Teilimmunisierung haben. Für die vielen Neuen gibt es kaum ein Durchkommen, auch wenn sie den lang erwarteten Code in der Tasche haben.
Dabei soll im Juni nun aber wirklich der angekündigte Impfturbo zünden. Das Bundesgesundheitsministerium hat großspurig angekündigt, dass dann pro Woche mindestens fünf Millionen Impfstoffdosen ausgeliefert werden, davon 2,25 Millionen an die Impfzentren. Doch deren Betreiber hätten gerne mehr, da ihre Kapazitäten auch damit nicht annähernd ausgeschöpft sind.
Und wie ist es mit dem zweiten großen »Vertriebskanal«, den Arztpraxen? Direkt nach Ostern ging es bei ihnen los - das brachte mehr Tempo in die bis dahin zähe Kampagne. Mehr als 64.000 Praxen sind mit von der Partie. Allerdings wurde damit auch die Priorisierung nach Risikogruppen zumindest gelockert. Den Medizinern wurden Spielräume gelassen, da sie »ihre Patienten ja kennen«, wie das Argument lautete. Im Ergebnis kommt es aber auch zu Ungerechtigkeiten: Wer kennt nicht Geschichten wie die von der 95-Jährigen, die nicht ins Impfzentrum kommt und deren Hausarzt bei ihr keine besondere Priorität sieht, da sie alleine lebt? Oder von dem Jugendlichen, der sich als privater Betreuer des Opas ausgibt, den er kaum mal besucht? Oder vom Arzt, der seine Lieblingspatienten bevorzugt impfen lässt?
An diesem Tag warten sieben Patienten in einer Hausarztpraxis in Berlin-Neukölln auf die Impfung mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff. Am Ende der Sprechzeit, wenn sich die Praxis leert, werden hier die Impfstoffe vorbereitet und verabreicht. »Sind Sie sonst auch hier?«, fragt eine Frau Mitte 30 im Wartezimmer in die Runde. »Unser Hausarzt hat keinen Impfstoff, deshalb haben wir herumtelefoniert, bis wir hier Glück hatten.« Sie und ihr Partner haben Kinder in Grundschule und Kita. »Mit einer Impfung fühlen wir uns da einfach sicherer«, sagt er. Vor den teils schweren Nebenwirkungen des Vakzins, die vor allem bei jüngeren Frauen auftreten, hat sie keine Angst. »Diese treten doch so selten auf«, sagt die junge Mutter.
Am Tresen geht es derweil hoch her. Patienten möchten sich auf die Impf-Warteliste setzen lassen; die Sprechstundenhilfe ist fast nur noch damit beschäftigt, am Telefon Fragen dazu zu beantworten sowie Leute von der mittlerweile acht Seiten langen Warteliste kurzfristig für einen der nächsten Tage einzubestellen. »Wir kriegen jede Woche andere Impfstoffe und immer unterschiedliche Mengen«, klagt sie. Das mache die Planung schwierig. Eigentlich halte man sich an die Impfpriorisierung, nehme die Älteren und die mit den chronischen Erkrankungen bevorzugt dran. Im Ergebnis rutschen aber auch andere rein. Das war vor allem beim Astra-Zeneca-Impfstoff der Fall, den anfangs kaum jemand haben wollte. Und wer die erste Dosis hat, wird auch seine zweite pünktlich bekommen. Momentan nehme man niemand mehr neu auf die Warteliste, heißt es.
Die Verteilung der Impfstoffe läuft auf dem üblichen Weg. Die Praxis bestellt wie in der Grippesaison bestimmte Mengen bei der sie primär beliefernden Apotheke, die dann je nach Verfügbarkeit die Vakzine liefert. Werden dabei Fachärzte bevorzugt, wie bisweilen vermutet wird? Probeanrufe bei Praxen im Süden Berlins können das nicht bestätigen. Bei der Frauenärztin käme zwar auch eine Jugendliche auf die Warteliste, aber ein Termin ist nicht in Sicht. Beim HNO-Arzt gibt es ein klares Nein: Man habe gerade neue Bestimmungen von der Kassenärztlichen Vereinigung bekommen, dass man sich an die Impfreihenfolge halten müsse. Beim Orthopäden ist kein Durchkommen, auch auf E-Mail-Anfrage gibt es keine Antwort. Das Problem scheint der Andrang zu sein. Ärzte sind derzeit kaum telefonisch erreichbar. Einzelne Praxen haben die Terminvergabe bereits externen Dienstleistern übertragen.
Die Übernachfrage bei begrenztem Angebot wurde allerdings von der Politik geschürt. Etwa durch die frühe Freigabe der Vektorimpfstoffe von Astra-Zeneca und von Johnson & Johnson, die wegen schlechter Presse zeitweilig als Ladenhüter galten. Und als die Regierung Geimpften bestimmte Privilegien und vor allem die Aussicht auf Urlaubsreisen im Sommer bot, setzte sie Fehlanreize. Zwar ist positiv, dass dies offenbar die Impfbereitschaft fördert. Laut jüngster Yougov-Umfrage wollen dies mittlerweile drei Viertel tun, während es vor wenigen Wochen nur zwei Drittel waren. Allerdings soll das möglichst sofort geschehen, da der Sommer näher rückt und es mit den Doppelimpfungen plus zwei Wochen Karenzzeit ganz schön dauert. Den Dammbruch brachte vergangene Woche die Ankündigung von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und seinen Länderkollegen, ab 7. Juni die Priorisierung bei allen Impfstoffen aufzuheben und auch Betriebsärzte einzubinden. Damit hat die Politik Erwartungen geweckt, die man mit der vorhandenen Impfstoffmenge nicht annähernd befriedigen kann. Vor allem Medizinerverbände sind extrem unzufrieden: Dadurch gebe es nicht mehr Impfstoff, kritisiert Susanne Johna, Präsidentin des Marburger Bunds, »sondern einfach noch mehr Menschen, die um ein knappes Gut konkurrieren«. Aus immer mehr Arztpraxen ist von aggressiven Reaktionen zu hören, wenn nicht sofort ein Termin vereinbart werde. Einige haben sich vom Impfsystem inzwischen wieder abgemeldet.
Zentrales Problem ist, dass nicht mehr klar ist, welche Strategie die Regierung mit der Impfkampagne künftig verfolgt. »Wir sind auf einem guten Weg«, sagte Spahn bei der Verkündung der frohen Botschaft, alle Impfstoffe freizugeben. Bereits 32 Millionen Bürger seien einmal geimpft, mit Beginn des Sommers würden es schon 50 Prozent sein. Eine Erläuterung blieb der Minister schuldig. Experten sind sich sicher, dass nicht etwa epidemiologische, sondern politische Überlegungen mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen Grund für die Freigabe sind.
Zunächst war ja das unumstrittene Ziel der Impfkampagne, die für einen schweren Verlauf anfälligen Gruppen zu schützen, um das Sterben zu beenden und dem Virus seinen Schrecken zu nehmen. Die zuletzt deutlich gesunkenen Inzidenzzahlen verdecken, dass man davon noch ein ganzes Stück entfernt ist. Die Todeszahlen schwanken seit etwa zwei Monaten etwa um die Marke 200. Auch auf den Intensivstationen werden noch sehr viele Covid-19-Fälle behandelt, hier liegen derzeit vor allem die 60- bis 69-Jährigen. »Dies zeigt, wie wichtig es ist, dass wir jetzt vor allem bei der Gruppe 60 plus noch deutlich die Impfquote erhöhen können und dass natürlich auch viele von denen die zweite Impfung erhalten«, sagt die Virologin Sandra Ciesek vom Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Rein intensivmedizinisch gesehen muss man »eigentlich darauf achten, dass sich alle über 50 zuerst impfen lassen«.
Laut neuesten Zahlen des Robert-Koch-Instituts (Stand 11. Mai) haben etwa 72 Prozent der über 80-Jährigen den vollen Impfschutz erreicht, bei den 70- bis 79-Jährigen nur zehn Prozent, in der Altersgruppe darunter noch weniger. Daher müsste der Schwerpunkt der Impfkampagne hier liegen. Weitere Aspekte müssten jetzt in den Vordergrund rücken: Wer ist vor allen Dingen infiziert, wer gibt das Risiko weiter, wer hat das höchste Berufsrisiko? Wie kriegt man Risikogruppen geimpft, die etwa wegen der Sprachbarriere schwer erreichbar sind oder die in bestimmten Regionen mit hoher Impfskepsis leben?
Eine ausgeklügelte Strategie könnte man sicher auch der Bevölkerung verständlich machen, denn die hat sich in Teilen längst virologische Kenntnisse angeeignet. An der Supermarktkasse in Tempelhof beginnt eine längere Debatte. Eine Kundin schildert, dass sie bald ihre Zweitimpfung bekomme, aber mit einem anderen Impfstoff. »Ob das gut ist?«, fragt sie. Der Kassierer gibt Entwarnung: »Das ist sogar besser als zweimal den gleichen, habe ich gelesen.«
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