Wer spaltet die Linkspartei?

Die Politikerinnen Kathrin Vogler und Sahra Wagenknecht stritten über deren viel diskutiertes Buch »Die Selbstgerechten«

Wenn eine linke Politikerin gegen Selbstgerechtigkeit polemisiert, dann kann man sich viel vorstellen. Es könnte sich um eine Auseinandersetzung mit etablierten Parteien handeln, mit der vermögenden Oberschicht, mit der FDP, mit der Wirtschaftslobby, mit der katholischen Kirche oder mit der EU-Bürokratie.

Sahra Wagenknecht allerdings, die Linke-Politikerin und frühere Vorsitzende der Bundestagsfraktion, bezeichnet als Selbstgerechte »Leute, denen es relativ gut geht, oft akademisch gebildet«, die in Städten leben »und anderen vorschreiben wollen, wie sie zu leben, zu denken, zu reden haben«. So beschreibt sie den von ihr gewählten Begriff in einem Streitgespräch, das auf der Webseite diefreiheitsliebe.de erschien – ein laut Selbstbeschreibung »Portal für kritischen Journalismus«.

»Die Selbstgerechten« heißt dann auch Wagenknechts jüngstes Buch, vom Verlagsmarketing genau in den medienträchtigen Beginn des Bundestagswahlkampfs lanciert, und im Untertitel »Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt«. Über dieses Buch debattierte sie mit Kathrin Vogler, wie Wagenknecht Bundestagsabgeordnete der Linken aus Nordrhein-Westfalen, beide auch wieder weit vorn auf der Landesliste für die Wahl im September platziert. Erste Passagen, die im Umfeld der Listenwahl der NRW-Linken bekannt wurden, sorgten für erhitzte Reaktionen bis hin zu einer spontanen, allerdings erfolglosen Konkurrenzkandidatur gegen Wagenknecht um Listenplatz Nummer 1. Denn Wagenknecht greift politische Gruppen an, die sich als junge Linke verstehen und von nicht geringen Teilen der Linkspartei als Bündnispartner betrachtet werden: Klimaschützer, Antirassisten, Genderaktivisten, überhaupt Menschen, die sich mit Identitätsfragen beschäftigen.

Deren Zugang zur Politik hält Wagenknecht für »ein Kernproblem«, wenngleich man über ihren pauschalen sozialen Befund der von ihr Kritisierten eine gesonderte Diskussion führen könnte. Längst nicht alle jungen Leute aus dem akademischen Milieu stehen sozial gesichert da, und auch Wagenknecht sollte schon vom akademischen Prekariat und von der Generation Praktikum gehört haben.

Gleichwohl findet sie, dass Klimabewegte, identitätspolitisch Engagierte und Andere Debatten führen, die bevormunden und »an den sozialen Problemen der Menschen vorbeigehen«. Und in ihrem Schlepptau gewissermaßen bewege sich die Linke. Linksliberalismus und Neoliberalismus sind für Wagenknecht »zwei Seiten einer Medaille«; so erklärt sie sich die Abwendung der Arbeiter von linken Parteien.

Dem hält Kathrin Vogler unter anderem ihre eigene Biografie entgegen. Sie habe vom Bildungsaufbruch in der Ära des SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt profitiert und als Erste aus ihrer Familie das Abitur gemacht. Viele Arbeiter hätten sich nicht deshalb von der SPD abgewandt, sondern weil sie erlebten, dass ihre Arbeit entwertet wurde, weil der Niedriglohnsektor eingeführt und ihnen auch noch das Gefühl vermittelt wurde, selbst für den Abstieg verantwortlich zu sein. Das sei die Ursache der SPD-Krise und nicht ein Linksliberalismus, so Vogler.

Wagenknecht wirft der Linken vor, sich nicht mehr auf die existenziellen Sorgen der einfachen Menschen zu konzentrieren. Vogler erwidert, sie kenne »niemand in der Linken, der so oft über Gendersternchen diskutiert wie Sahra«, und erinnert an die zahlreichen sozialen Kampagnen der Linkspartei. In der Tat: Mindestlohn, bessere Bezahlung für Pflegekräfte, der Kampf gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens, Mietendeckel, Übernahme von Rentenansprüchen aus DDR-Zeiten – diese und andere Themen sind mit der Linken verbunden. Dennoch, so Wagenknecht, sei die Wahrnehmung der Linkspartei bei vielen Menschen eine andere, mit dem Ergebnis, »dass die AfD derzeit die Arbeiterpartei ist«. Das sei »unser Versagen«, meint sie, »und diese Wähler möchte ich zurückholen«.

Dies ist der Punkt, an dem Wagenknecht vorgeworfen wird – auch Vogler tut es –, am rechten Rand zu fischen. Selbstredend weist Wagenknecht das weit von sich, als aber das Gespräch auf das Corona-Thema kommt, spricht sie ganz selbstverständlich von Leuten, die in Branchen arbeiten, »die jetzt schon ewig Berufsverbot haben«. Wagenknecht ist zu klug, als dass dies ein Lapsus wäre; dieser historisch eindeutig zugeordnete Begriff wird neuerdings vornehmlich von Leuten verwendet, die sich generell gegen die Corona-Maßnahmen wenden.

In dieser und anderen Diskussionen über Wagenknechts Buch werden Passagen weitgehend ausgeblendet, die weniger polemisch angelegt sind und sich etwa mit Vorschlägen zur Entwicklung der demokratischen Praxis und einem neuen Eigentumsbegriff befassen. Vielleicht kommt die Zeit dafür noch. Vorerst geht es für die Linke angesichts kritischer Umfragewerte wenn nicht um die politische Existenz, so doch um die politische Bedeutung. Wagenknechts Feststellung, dass der Linken wie auch der SPD viele Wähler davongelaufen sind, ist ja nicht von der Hand zu weisen. Die Auseinandersetzung über die Ursachen ist dringend nötig und wird sicher nach diesem Wahljahr an Schärfe gewinnen. Vogler sieht die Lösung offenbar nicht in einem Entweder-oder – entweder abgehobene Debatten oder klassische Sozialpolitik. »Die Frage ist doch, wie man die studentischen Diskussionen mit den sozialen Kämpfen zusammenbringt«, sagt sie. Dazu könne sie in Wagenknechts Buch nichts entdecken.

Parteien, die sich streiten, werden nicht gewählt und verlieren deshalb – das ist ein altbewährtes Diktum etwa von Oskar Lafontaine, der selbst kaum einem Streit aus dem Wege geht, und diese Feststellung findet sich auch in Wagenknechts Buch. Andererseits lebt gerade die Linke – die gesellschaftliche Linke insgesamt ebenso wie die Partei dieses Namens – von der Debatte. Mit Wagenknechts Buch wird diese Auseinandersetzung befeuert. Eine ihrer Kernthesen ist, dass die – in ihren Augen – Selbstgerechten mit ihren Vorstellungen spalten. Vogler hält dem entgegen, dass Wagenknecht mit ihrem Buch spaltet. Harte, vorerst wohl unversöhnliche Vorwürfe, und die Debatte darüber steht gewiss erst am Anfang. Ob sie von Interessierten und Beobachtern als notwendige Klärung oder als destruktives Gemetzel verstanden wird – eine der Antworten auf diese Frage wird es am 26. September geben, wenn der neue Bundestag gewählt wird.

Das Streitgespräch (etwa eine Stunde) ist zu sehen auf diefreiheitsliebe.de

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