Schau in die Welt, nicht in den Himmel!

Niemals war man freier als in den 70er Jahren: »Die Kinder hören Pink Floyd« von Alexander Gorkow

In den 70ern sah man noch viele Männer mit Stöcken und Hüten. »Als wäre immer irgendwo ein Verleih für Stöcke und Hüte«, wie Alexander Gorkow in seinem Roman »Die Kinder hören Pink Floyd« schreibt. Gemeint sind hier keine Dandys wie aus den britischen Komödien, sondern alte aggressive Männer, die die Kinder wegbellten, von den Grünflächen, auf denen »Ballspielen verboten« stand. Man kann sie in den alten »Rappelkiste«-Folgen rumoren sehen. »Rappelkiste« war in den 70ern eine antiautoritäre Kindersendung im eher autoritätshörigen ZDF. Darin haben die Kinder lange Haare, egal ob Junge oder Mädchen, so wie die Fußballer und Rockmusiker damals. Irgendwo stand immer ein Schild herum, das verkündete: »Ballspielen verboten«. Und darüber wachten die Männer mit den Stöcken und Hüten. Aber sie wurden in jeder »Rappelkiste« von den Kindern besiegt.

Man muss sich die 70er als eine freie Zeit vorstellen, vielleicht die freieste in der BRD. Trotz der Berufsverbote von Willy Brandt und der Atomkraftwerke von Helmut Schmidt. Und auch die freieste in der DDR, mit dem Höhepunkt der Weltfestspiele der Jugend 1973 in Ostberlin. Auch wenn nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann drei Jahre später der Drops gelutscht war. Das war staatlicherseits »die Erschöpfung utopischer Energien«, von der Jürgen Habermas dann in den 80er Jahren schrieb. Doch dies merkten erst mal nur die Intellektuellen. Die SED hat sich davon nicht mehr erholt, so wenig wie die SPD von Helmut Schmidts kalter Technokratenpolitik. Ohne diesen Bundeskanzler hätten es die Grünen in ihrem Gründungsprozess sehr viel schwerer gehabt.

Alexander Gorkow schildert die damaligen Konfrontationen in einer westdeutschen Akademikerfamilie. Der Vater liest andächtig die FAZ, die Tochter will für die Unterdrückten kämpfen. Ihr kleiner Bruder, der Ich-Erzähler, schaut zu und stottert. Die Mutter ringt damit, in der »neuen Einbauküche Courage« die familiär beliebten Gerichte »aus dem Spezialitätenrestaurant Balkan Grill« nachzukochen. Kriegt sie leider niemals hin. Und irgendwann explodiert der Dampfkochtopf mit der Quittenmarmelade - Katastrophe! Obwohl der Vater gesagt hat: »Der Topf funktioniert. Seit unserer Hochzeit. Der Topf kommt aus Deutschland.«

Es geht um Druckverhältnisse, politisch und psychologisch. In den 70er Jahren entstanden die Neuen Sozialen Bewegungen der Homosexuellen, der Frauen und der Ökologie in einem alternativen Milieu, das sich regional definierte und den Staat für uninteressant erklärte. Gefordert wurde eine Politik in der ersten Person, Subjektivität und »Erfahrungshunger« (Michael Rutschky). In der Popmusik entstanden niemals mehr so viele neue Genres wie in den 70er Jahren. Dem Vorgefundenen wurde wurde ganz allgemein misstraut. Warum, kann man sehr gut bei Gorkow nachlesen, der seinen Roman nicht mit einer durchgehenden Handlung versehen, sondern aus verschiedenen, symbolisch stark aufgeladenen, aber sehr amüsant geschriebenen Episoden kombiniert hat.

Ein wichtiger Ort der Auseinandersetzung der Kinder mit dem Bestehenden ist das Wohnzimmer, das auf abschreckende Weise von einem »titanischen Frankfurter Schrank« und Wandtellern aus Kupfer dominiert wird. Aber dort steht auch der Plattenspieler, ein Thorens TD-125 mit Nussbaumfurnier. Auf ihm hört sich die ganze Familie auf Geheiß der Tochter Pink Floyd an. Es ist die Lieblingsband der Kinder, jede neue Platte eine Offenbarung. Als zum ersten Mal »Wish You Were Here« erklingt, müssen die Kinder weinen, weil das Titellied dieses Albums von 1975 so schön ist. Der ansonsten nur Jazz hörende Vater aber ruft: »Wieso können sie das mit den Effekten nicht lassen?« Er ist bestürzt, weil er nicht weiß, wie er mit dieser Musik umgehen soll und sucht die Plattenhülle nach einer Gebrauchsanweisung ab: »Haben sie Informationen abgedruckt, wie diese Platte auszusteuern ist?«

Ein Leben nach der Gebrauchsanweisung und der Frage, was sollen nur die Nachbarn denken, das sollte damals überwunden werden. Der Kampf gegen Autoritarismus und Opportunismus, gegen den »Faschismus in den Köpfen« (Michel Foucault), zu dem Pink Floyd dann explizit 1979 auf ihrem Doppelalbum »The Wall« aufriefen. Die Schwester hat eine Herzkrankheit, aber sie will frei sein. Sie sagt: »Ich bin nicht behindert. Ich habe ein Herz, das anders konstruiert ist.«

Ihr Bruder fürchtet Monster. Das gefährlichste von allen droht ihn aus dem Fernseher anzuspringen: Heino »mit seinen verrückten roten Augen«. Aber auch mit Rainer Barzel, dem Vorsitzenden der CDU, scheint etwas nicht zu stimmen: »Das runde Gesicht, die gepolsterte, dabei undurchsichtige Stimme, der schwarzweiße Herr«. Die Schwester analysiert: »Heino ist Bodenpersonal, Barzel ist die Instanz«. Das ist das konservative Westdeutschland (plus Dampfkochtopf). Als er noch kleiner war, riet ihm die Schwester, er solle in die Luft schauen und wenn er sich konzentriere, dann würde ihm die Pyramide vom Cover der Pink-Floyd-Platte »The Dark Side of the Moon« erscheinen. Später sagt sie ihm: »Schau in die Welt. Nicht in den Himmel. Pink Floyd sind hier, nicht im Himmel.«

Aber dann kam kurze Zeit später Punk und Pink Floyd wurden verachtet, als Teil einer zu überwindenden Welt. Peter Hein sang 1980 auf »Monarchie und Alltag«, dem ersten Album der Fehlfarben: »Die zweite Hälfte des Himmels könnt ihr haben, das Hier und das Jetzt, das behalte ich.«

Alexander Gorkow: Die Kinder hören Pink Floyd. Kiepenheuer & Witsch, 188 S., geb., 20 €.

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