Rückkehr nach Ostdeutschland

»Nehmt den Wessis das Kommando« - echt jetzt? Wie man in Sachsen-Anhalt auf das Plakat der Linkspartei reagierte

  • Aron Boks
  • Lesedauer: 7 Min.

Ich möchte von meiner Irrsuche erzählen. Ausgangspunkt war ein Ende April präsentiertes Plakat der Partei Die Linke in Sachsen-Anhalt. Darauf ist ein Kind zu sehen, das einen Hund an einer Leine zieht. Dazu der Slogan »Nehmt den Wessis das Kommando!«. Gut eineinhalb Monate vor den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt.

Als linksliberaler gebürtiger Sachsen-Anhaltiner war ich zunächst der festen Überzeugung, dass dieser Spruch nicht nur saudämlich, sondern auch gefährlich sei. Auch wenn das Plakat dann gar nicht im Wahlkampf verwendet wurde. Es wurde ausschließlich zur Provokation eingesetzt. Das funktionierte.

Als ich es zum ersten Mal sah, erinnerte ich mich sofort an die Befremdung, die ich als Jugendlicher fühlte, wenn Gleichaltrige in meiner Heimat, dem Harz, zwischen »Ossis« und »Wessis« unterschieden. Wenn auf Partys und Festen immer irgendwo eine DDR-Fahne aufgehängt wurde. Manchmal wehte sie auch. Das freute die Leute, auf deren Handydisplays Hammer und Zirkel als Hintergrundbild zu sehen waren.

Jetzt beschloss ich nachzuschauen, ob es eine ostdeutsche Identitätspolitik bei jungen Menschen gibt. Bei jenen, die die DDR nie erlebt haben. Die sie nur aus Erzählungen kennen, und natürlich aus den Medien. So wie ich zum Beispiel, geboren 1997. Ich verabredete mich via Instagram mit Mitgliedern diverser DDR-Moped-Gruppen aus dem Oberharz. Wir trafen uns unter einem Holz-Carport an diesem warmen, windstillen Maiabend. Kiefern begrenzten den großen Garten, der allerdings zur Hälfte aus Schotter bestand. Drei Simson S 51, eine Simson Schwalbe und ein Trabi standen dort schon bereit. Sie wurden für mich präsentiert. »Hier steht nichts, was nicht ostdeutsch ist«, sagte mir der Betreuer des Instagram-Accounts der Simson-Gruppe, »außer der Wagen meiner Eltern.«

Die Eltern waren an einen See nach Brandenburg gefahren, um dort Urlaub zu machen. Wir hatten den Garten für uns. Ich hatte allen Interviewpartner*innen Hasseröder Biere mitgebracht, als Freundschaftsangebot. Dass meine Befragung nicht sonderlich repräsentativ sein würde, war mir bewusst. Trotzdem interessierte mich, was »Ostdeutschland« für junge Menschen in Sachsen-Anhalt bedeuten kann.

»Hier wird einem noch beigebracht, dass nicht gleich alles weggeschmissen werden muss, sondern auch repariert werden kann«, sagte eine junge Erzieherin aus Harzgerode. »Es ist das Gemeinschaftsgefühl, das den Osten ausmacht«, sagte ein anderer. Allgemeines Nicken. Alle bejahten die Frage, ob sie sich als Ostdeutsche bezeichnen würden. Die Hälfte von ihnen antwortete auf die Frage, ob sie darauf auch »stolz« wären, souverän mit »Ja!«, zwei von ihnen schoben ein zögerliches, ziemlich egal klingendes »schon« nach; die restlichen zwei zuckten mit den Schultern. Als ich die Formulierung »Nehmt den Wessis das Kommando!« thematisierte, sagte einer prompt: »Muss ich leider zustimmen.«

Der gleichen Meinung waren laut einer Umfrage des Mitteldeutschen Rundfunks 39 Prozent der Sachsen-Anhaltiner*innen, 59 Prozent waren dagegen. Es wurden 6276 Menschen befragt. Die Aktion der Linkspartei wurde vom MDR als »Anti-Wessi-Plakat« bezeichnet. Immer wieder fragte ich mich, wer dieses Wort »Osten« als Herkunftsbeschreibung überhaupt noch braucht. Ist es nicht ein Narrativ, dass überhaupt erst die Idee von »Ossis und Wessis« erschafft - oder anders gesagt: ein Problem verdeutlicht, das eigentlich überwunden werden könnte, wenn nicht immer wieder auf »den Osten« und »den Westen« hingewiesen würde?

Über sogenannte Narrative und über vermeintliche Risiken einer ostdeutschen Identitätspolitik sprach ich per Zoom mit der Soziologin Katharina Warda, die genau wie ich in Wernigerode geboren und aufgewachsen ist. Zwölf Jahre vor mir, 1985. Ihre wissenschaftlichen Hauptthemen sind Rassismus, Klassismus, Punk und Ostdeutschland. »Etwas zu benennen, spaltet nicht«, sagte sie gleich zu Beginn. »Das ist totaler Blödsinn. Etwas zu benennen, macht nur deutlich, was gerade passiert. Und genauso sehe ich es mit Identitätspolitik auch. Das ist so ein aufgeladenes Wort, aber im Endeffekt geht es ja nur darum, Zusammenhänge der Ungerechtigkeit deutlich zu machen. Und das kann vor allem von Personen erkennbar gemacht werden, die von Ungerechtigkeit betroffen sind.«

Meine Eltern sind nach ihrem Abitur 1990 nach Hannover gezogen und dann als Anwalt und Schuldirektorin in ihre Heimat zurückgekehrt. Für mich galt die »Einheit« seit meiner Geburt als etwas Wundervolles. Viele andere Menschen in Sachsen-Anhalt verbinden mit ihr aber nicht nur ein Plus an Entscheidungs- und Reisefreiheit, sondern auch viel Unsicherheit und Überforderung. Und, um es klar zu benennen: Massenarbeitslosigkeit. 2003 lag die Arbeitslosenquote in Sachsen-Anhalt bei 20,3 Prozent. 2020 laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit mit 7,7 Prozent immerhin nur noch 1,8 Prozent über dem damaligen bundesdeutschen Durchschnitt.

Ost-West-Unterschiede aber waren mir fremd - sie kamen mir vor wie etwas aus alter Zeit, nachdem ich selbst nach dem Abitur nach Berlin gezogen war. Auch die Perspektiven und die Geschichten der DDR-Moped-Gruppenmitglieder waren für mich im Gespräch weit weg. Ich war voreingenommen. Was ich hörte, war für mich verwirrter DDR-Nostalgie-Frust. Damit habe ich die Existenz eines möglichen gesellschaftlichen Problems von mir weggeschoben und drohendes Unbehagen vermieden.

Öffentliche Statements in Sachsen-Anhalt, die auf die Präsentation des Plakats folgten, verdeutlichten ähnliche Abwehrmechanismen. Arbeitgeberpräsident Klemens Gutmann verweigerte der Landtagsfraktion der Linkspartei einen Veranstaltungsraum, den er ihr auf dem Gelände seiner Firma Regiocom in Magdeburg fest versprochen hatte. Denn er fühle sich von dem Plakat »persönlich getroffen«, sagte er dpa. Er ist 57 und im Schwarzwald geboren. Seit 28 Jahren lebt er in Magdeburg. Auch der Leiter des Katholischen Büros in Magdeburg, Stephan Rether, der aus dem Münsterland stammt und seit drei Jahrzehnten in Sachsen-Anhalt lebt, war sehr »sehr betroffen« von dem Plakat, aber nicht beleidigt wie er auf katholisch.de kundtat. Cornelia Lüddemann, Landtagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen zeigte sich zwar ähnlich »erschüttert«, schrieb aber auf Twitter, dass sie »dachte, alle Menschen sind grundsätzlich gleich und es kommt auf Wollen und Werte an«. Lüddemann wurde in Dessau geboren und hat in Halle studiert.

Die Spitzenkandidatin der Linken aus Sachsen-Anhalt, Eva von Angern, hat dort ebenfalls studiert. Sie ist in Magdeburg geboren. Ich traf sie auf Wahlkampftour in Bitterfeld. Im Gespräch teilte sie mir mit, dass ein Plakat allein nicht »spalten« könne. Und sie sprach von mangelnder Anerkennung, ungleicher Bezahlung und fehlender Chancengleichheit im Bereich Karriere und Aufstieg, was die Menschen aus Sachsen-Anhalt und Ostdeutschland betreffe. Tatsächlich zeigt eine Untersuchung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2020, dass Menschen aus Sachsen-Anhalt zwar durchschnittlich eineinhalb Wochen im Jahr länger arbeiten, sie aber trotzdem nur 85 Prozent des durchschnittlichen bundesdeutschen Jahreseinkommens erhalten. Sachsen und Thüringen schneiden nur knapp besser ab.

Erst später fallen mir weitere Themen ein, von denen mir die Moped-Gruppenmitglieder im Oberharz schon bei unserem Treffen erzählt hatten. Wenn sie in »den alten Bundesländern« arbeiteten, seien sie aufgrund ihrer Herkunft belächelt worden. Ja, sie würden sich nicht selten trotz jetzt 31-jähriger gemeinsamer bundesdeutscher Geschichte immer noch als »Menschen zweiter Klasse« fühlen. Dass sie deutlich weniger verdienen würden als Menschen im Westen mit der gleichen Arbeit wie sie als Kfz-Mechatroniker, Erzieherin oder Rettungssanitäter.

Ich hatte abwehrend reagiert und gedacht, dass sie diese Ansichten von ihren vermutlich frustrierten Eltern übernommen haben mussten. Vor allem, wenn sie doch tatsächlich von »guten alten Zeiten« sprachen und zwei von ihnen sogar von »Vorzügen des Sozialismus«. Andererseits hatte ich auch keine Beweise, dass ihre Eltern frustriert waren oder sich als »Wendeverlierer« bezeichneten. Ich fand nur, das waren »doofe Floskeln« von Menschen, die noch jünger waren als ich. Hatten sie denn irgendwelche Statistiken dabei, die sie mir zeigen konnten? Im Nachhinein merkte ich, dass es darum gar nicht ging. Sondern um Probleme, die sie sichtbar machten, wenn auch zum Teil auf rhetorisch rabiate Weise.

Mir wurde zudem bewusst, dass die Annahme, junge Menschen müssten die Teilung miterlebt haben, um sich als »ostdeutsch« zu identifizieren, in keiner Weise zielführend ist. Teilungserfahrungen werden auch weiterhin an Nachfolgegenerationen weitergegeben werden. Denn »wir sind nicht alle gleich aufgestellt in dieser Gesellschaft«, wie Katharina Warda sagt. »Und das kann ich deutlich machen, indem ich benenne, wo die Unterschiede gesellschaftlich bedingt liegen.« Diese als Ungerechtigkeit zu erkennen, führe zu Scham. Scham darüber, zu glauben, die eigenen Privilegien rechtfertigen zu müssen. Scham darüber, nicht zu wissen, wie damit in der Debatte umgegangen werden kann.

So erging es zumindest mir. Kein Plakat und keine Floskel kann das alleine schaffen. Ungerechtigkeit schon. Diese gilt es sichtbar zu machen, um sie zu bekämpfen. Meine Suche führte mich an diesem Ziel vorbei. Es war aber auch viel leichter, alle daran zu erinnern, dass es »Ostdeutschland« ja eigentlich gar nicht mehr gibt.

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