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- Till Eulenspiegel
Die Kraft der Außenseiter
Das Berliner Gefängnistheater aufBruch zeigt »Till Eulenspiegel« als Freiluftspektakel
Till Eulenspiegel hinter Gittern - das mag man sich nicht vorstellen. Ein Narr wie er braucht das ganze weite Land und frische Luft. Da passt es gut, dass das aufBruch-Gefängnistheater einmal im Jahr ein Stück im Freien mit ehemaligen Insassen, Freigängern und freien Schauspielern herausbringt. Im vergangenen Sommer war es an gleicher Stelle William Shakespeares »Sommernachtstraum« auf der Freilichtbühne in der Berlin-Charlottenburger Jungfernheide, ebenfalls unter Corona-Bedingungen mit reduzierter Platzzahl.
Damals war es die Wiederentdeckung eines vergessenen Ortes. Die ungenutzte Arena im Wald war fast völlig von Sträuchern und Bäumen überwuchert - das passte zum Labyrinth der Lüste. Nun aber geschieht auch hier, was in Berlin derzeit mit allen noch verborgenen Plätzen passiert: Es wird gebaut, am liebsten betoniert. Die letzten geheimen Orte sollen verschwinden. So fand die aufBruch-Truppe ihren Spielort zu Probenbeginn wie leer gefegt vor, bereit für die anrückenden Bautrupps.
Doch eroberte sich in den letzten sechs Probenwochen das anarchistisch gestimmte Grün wieder etwas vom Gelände zurück - und in der Arenamitte baute der Bühnenbildner Holger Syrbe ein provisorisches Lager mit Armeezelten, einem signalroten Klohäuschen und etwas ferner am Waldrand einen Galgen. Das ist die Szenerie für diesen »Till Eulenspiegel«. Im 16. Jahrhundert begraben Reformation und Bauernkrieg das wohlgeordnete Mittelalter.
Aus Rittern sind Raubritter geworden, jeder stiehlt und betrügt, was er kann. Die Welt ist aus den Fugen - und diesmal spüren die Bauern das herrschende Chaos. Da kommt etwas in Bewegung. Und wenn es nun schon zwei Kirchen gibt, die sich gegenseitig die Wahrheit streitig machen, dann ist es vielleicht auch nicht gottgegeben, dass die einen immer reicher und die anderen immer ärmer werden?
Till Eulenspiegel prüft die Welt auf ihre Veränderbarkeit hin. Und sei es damit, dass er den Herren vor die Füße scheißt. Sein Witz ist grob und geradezu kriminell. Seine Waffen sind die eines Wehrlosen. Er überrumpelt die Hüter von Gesetz und Moral mittels fetischisierter Correctness, nimmt das Wort beim Buchstaben und treibt ihm so vor aller Augen seinen Sinn aus. Etwas, das richtig ist, muss eben nicht schon wahr sein (ganz im Gegenteil).
Für Regisseur Peter Atanassow und Dramaturg Hans-Dieter Schütt ist Till Eulenspiegel natürlich kein harmloser Spaßmacher. Für sie ist er die faustgrobe Antwort auf alle verkehrten Verhältnisse, die er nicht zu bessern, sondern auszubeuten gedenkt. Ein Parasit der alten Verhältnisse, kein Partisan der neuen. Ein Beutelabschneider, den es folgerichtig zum fahrenden Volk führt, weil jene Späße, die nach seinem derben Geschmack sind, ständige Fluchtbereitschaft erfordern. Hermann Hesse hat den Künstler und den Verbrecher aus einer - antibürgerlichen - Wurzel erwachsen sehen. Till Eulenspiegel aber ist diese Wurzel in Person.
Wer wissen will, wie das Volk einmal war, der schaue auf Till Eulenspiegel als seinem obersten Repräsentanten. Gewaltsam und solidarisch zugleich, auf unflätige Weise gottesfürchtig, zärtlich und grob jeden Tag wieder den Kampf ums bloße Überleben führend. Daraus erwächst eine besondere Klugheit, die man nicht auf Schulen lernt. Ein Witz, über den nur jene lachen können, die von ihm nicht betroffen sind. Denn den Schaden sollen nun auch jene noch haben, die sowieso schon alles besitzen. Till Eulenspiegel: die verbale Abrissbirne aller faulig gewordenen Zustände. Thomas Brasch hat ihn einen Clown genannt, »der heult, weil er nicht zu den Partisanen geht, / die es nicht gibt«.
Die Inszenierung von Peter Atanassow lässt den Atem der Historie hinein ins bunte Spektakel, bei dem man gern bei jeder Gelegenheit im Chor singt und sich als heimlicher Musical-Star fühlt. Aber das gefühlte Sein und das reale gesellschaftliche Sein passen nun mal zusammen wie Tag und Nacht. Von Thomas Müntzer und Martin Luther ist auf der Bühne mehr die Rede als von Tills Späßen, die doch allzu stereotyp fäkal seien, wie die fahrende Truppe, der er sich anschließt, nicht umhinkommt, naserümpfend zu bemerken.
Und so verwandelt sich diese Vorstellung selbst in eine Art Jahrmarkt der Attraktionen, die das Unterhaltsame mit dem Belehrenden verbinden wie einen Nachttopf mit seinem Inhalt. Das ist zweifellos der richtige Zugang zu einem Stoff, der über die Jahrhunderte hinweg in einem sich immer gleich geblieben ist: seiner kraftvollen Außenseiterei, die - so hören wir von der Bühne - »aus dem Rand der Gewöhnung ins Zentrum der Angst« drängt.
Darum geht es, um den »Sterbewitz« (Thomas Brasch), der hier regiert. Schütt hat dem Volksbuch einiges von Günther Weisenborn, Christa und Gerhard Wolf (die 1973 das Buch zum legendären Defa-Film von Rainer Simon mit Winfried Glatzeder in der Rolle des Till Eulenspiegel schrieben) und natürlich auch Heiner Müller und Brecht untergemischt - und diese Melange scheint explosiv. Wo will er hin, dieser Till Eulenspiegel? Geradewegs an den Galgen oder doch lieber in Lohn und Brot als Narr bei Hofe?
Hans-Jürgen Simon als Till Eulenspiegel überzeugt mit jenem ernsten Witz, der nichts Belehrendes hat, sondern jederzeit Notwehr bleibt. Die disparate Vereinigung von Gauklern repräsentiert nicht etwa die fahrende Truppe von einst, sondern sie ist es. Jeder, der dort vorn steht und das Stück auf seine Weise trägt, hat auch außerhalb der Bühne an sich zu tragen. Da bekommt das Spiel etwas Nachdrückliches, probeweise ersteht eine Vision: Sollte man nicht auch einmal zu den Siegern gehören? Aber der Preis dafür wäre geopferter Eigensinn.
Das hier kultivierte Zugleich von Laienspiel und professionellem Anspruch gibt dem Theater eine ursprüngliche Qualität zurück: Wir blicken in einen Spiegel, den uns Gaukler hinhalten. Frank Zimmermann als Chef der Gauklertruppe hat etwas vom Brechtschen Bettlerkönigtum an sich, dem man sich nur bewaffnet anvertraut.
Auch das weitere Personal ist vor allem eins: wehrhaft. Patrick Berg als Landsknecht, der die staatliche Gewalt privatisiert, Maja Borm als mit aller Gewalt, auch erotischer, um Zuspruch werbendes Showtalent oder Sabine Böhm als vormalige Puffmutter, der eine Seuche ihre Mitarbeiterinnen raubte und die nun für alle kocht - überall sehen wir ausgeprägte Persönlichkeiten, die uns etwas vom Leben, auch dem mit der Kunst, zu erzählen haben.
Nächste Vorstellungen täglich vom 16. bis 20.6.
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