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Der Klassenraum als Ort des Vertrauens

Berlinale Wettbewerb: Ein Gespräch mit der Regisseurin Maria Speth zu ihrem Dokumentarfilm »Herr Bachmann und seine Klasse«, der den Preis der Jury gewann

  • Marit Hofmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Frau Speth, mögen Sie verraten, wie Sie Ihren Protagonisten Dieter Bachmann kennengelernt haben?
Er ist ein Freund meines Kameramanns Reinhold Vorschneider. Und in der Tat hat Dieter Bachmann den Impuls für den Film gegeben. Er hat immer wieder von dieser Industriestadt mit ihrer besonderen Geschichte und von der Schule, an der er arbeitet, erzählt. Und irgendwann bin ich dort hingefahren und habe angefangen zu recherchieren.

Verlagerte sich das Projekt von diesem in besonderer Weise migrantisch geprägten Ort hin zu einer Geschichte darüber, wie Bildung auch unter prekären Umständen gelingen kann?
Ja, Stadtallendorf war in gewissem Sinne der erste Protagonist des Films. Bis 1938 war es ein unscheinbares Bauerndorf und hieß Allendorf, in der Mitte Deutschlands und umgeben von Wald. Diesen Ort haben die Nationalsozialisten ausgewählt, um die größte Sprengstoffproduktionsstätte Europas aufzubauen. Bei Kriegsende waren hier fast 17 000 Fremdarbeiter*innen eingesetzt. Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge. Heute liegt der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund bei 70 Prozent. Für mich stellte sich die Frage, wie man diese besondere Vergangenheit der Stadt mit der Gegenwart filmisch zusammenfügen kann. Dafür schien mir die Schule der geeignete Ort, die kulturelle Zusammensetzung der Klassen spiegelt die Lebenswirklichkeit und Bevölkerungsstruktur der Stadt.

Schließlich gab es die Faszination für die Art und Weise, wie Dieter Bachmann unterrichtet. Und in diese Richtung hat sich der Schwerpunkt entwickelt, weil ich in gewissem Sinne »ergebnisoffen« in die Dreharbeiten und den Prozess der Montage gegangen bin, also mich ohne vorgefasste These oder Zielsetzung in den Ereignissen und im gedrehten Material »treiben« ließ.
Interview

Maria Speth ist 1967 in Bayern geboren, lebt aber seit 1987 in Berlin. Bis 1995 arbeitete sie als Schnitt- und Regieassistentin. Von 1996 bis 2002 studierte sie an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg Regie. 2009 gründete sie die Produktionsfirma Madonnen Film und realisierte ihren ersten Dokumentarfilm »9 Leben«, für den sie den Deutschen Regiepreis Metropolis erhielt. Mit Speth sprach Marit Hofmann.

Dass Bildung im Sinne von Wissensvermittlung mit dieser Art von Unterricht gelingen kann, zeigt die Tatsache, dass aus der Klasse von Bachmann acht oder neun Schüler*innen weiter auf den Gymnasialzweig der Gesamtschule gehen. Auf keinen Fall möchte ich aber mit diesem Film eine verallgemeinerbare, pädagogische These formulieren. Davon verstehe ich zu wenig, und das interessiert mich auch nicht als Filmemacherin.

Wussten Sie vorher, dass in diesem Schuljahr die Stadtgeschichte behandelt wird - auf eine Weise, mit der diese Schüler*innen offensichtlich mehr anfangen können als andere, die Gedenkstättenbesuche als Pflichtprogramm absolvieren?
Für mich stellte sich die Frage: Wie viel wissen diese Kinder, die in zweiter, dritter Generation dort leben, überhaupt über die Geschichte des Ortes und die Einwanderungsgeschichte ihrer (Groß-)Eltern? Zwischen der Georg-Büchner-Schule und dem im Dokumentations- und Informationszentrum der Stadt besteht eine enge Zusammenarbeit. Es war sehr berührend zu sehen, wie die Schüler*innen gebannt zuhören, wenn erzählt wird, dass die Nazis vor über 80 Jahren Kinder in ihrem Alter ausschließlich aus Osteuropa in den Rüstungsfabriken eingesetzt haben. Oder auch die Reaktion auf den Schulfilm, der zeigt, wie die ersten Gastarbeiter*innen aus der Türkei nach Deutschland kommen.

Wie schwer war es, Drehgenehmigungen bei allen Beteiligten einzuholen? Wie haben Sie das Vertrauen gewonnen?
Belastend war vor allem der Aufwand für die über 300 Einverständniserklärungen, die wir einholen mussten. Da ich bereits in der Recherchephase viel Zeit an der Schule verbracht habe, gab es ausreichend Gelegenheit, sich kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen.

Hatten Sie eine Carte blanche oder haben Sie bestimmte Szenen einzelnen Beteiligten vorab zur Genehmigung vorgelegt?
Ich hatte das Glück, dass alle Beteiligten mir vertraut haben. Natürlich gab es auch mal die Bitte der Klasse und von Dieter Bachmann, einen Blick auf das Material werfen zu dürfen, aber ich sagte ihnen, sie müssten sich darauf verlassen, dass ich das schon in ihrem Sinne mache. Ich wollte Selbstvergessenheit und nicht Selbstbespiegelung erreichen.

Man stellt sich natürlich die Frage: Wie werden die Schüler*innen damit umgehen, wenn sie ständig von Kameras und Filmteam umgeben sind? Das klappte aber erstaunlich gut; die Kinder haben uns sehr schnell in ihre Klassengemeinschaft aufgenommen. Wir hatten über 200 Stunden Material. Der Schnittprozess hat etwa drei Jahre gedauert. In einem Drehbuch kann eine Figur in wenigen Szenen charakterisiert oder dargestellt werden. In einer nicht inszenierten Wirklichkeit braucht man dafür mehr Zeit.

Trotz der unkonventionellen Methoden, der Wertschätzung und der individuellen Förderung, die er jedem einzelnen Kind zukommen lässt, kann Herr Bachmann auch autoritär sein und arbeitet etwa mit der Time-out-Methode: Wer Regeln bricht, wird vor die Tür gesetzt. Geht es innerhalb des hiesigen Schulsystems nicht anders?
Wie gesagt wollte ich mit dem Film keine These über das Schulsystem formulieren. Deswegen kann ich auch diese Einordnung oder Qualifizierung bestimmter »Methoden« nicht überprüfen oder kommentieren. Ich denke aber, dass Herrn Bachmanns pädagogische Maßnahmen sich in jahrzehntelanger Tätigkeit als Lehrer in diesem sozialen Umfeld entwickelt haben. Und ich halte es für problematisch, einzelne von ihm praktizierte Maßnahmen isoliert zu betrachten. Bachmann wirft all seine Fähigkeiten in die Waagschale, um den Kindern Räume zu eröffnen und um eine Atmosphäre zu schaffen, in der jede und jeder das Gefühl hat, sich zeigen zu können. Der Klassenraum als eine Art Wohnzimmer, aber vor allem als Ort des Vertrauens, in dem alles verhandelt werden kann. Mit einem Lehrer, der die Kinder herausfordert, provoziert, ermutigt, kritisiert und bestärkt und der für Solidarität und Empathie wirbt. In diesem familiären Klima hat neben Wissensvermittlung und Leistungsanforderungen thematisch und emotional vieles Platz, das am Ende den Schüler*innen vielleicht hilft, Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Sind die Szenen, in der Herr Bachmann mit einem Freund von seiner Vergangenheit und den Problemen mit der Institution Schule spricht, für die Kamera entstanden?
Der Bildhauer Jochen Gembatzki ist ein langjähriger Freund von Dieter Bachmann, und sie leben im gleichen Dorf. Jochen kennt auch die Kinder der Klasse recht gut. Bei dem gefilmten Treffen der beiden, das mehr als zwei Stunden dauerte, waren einige Minuten dabei, die ich bei der Montage interessant fand. Mir schien es naheliegend und wichtig, auch den »privaten« Herrn Bachmann erfahrbar zu machen, der eben auch den privaten Dieter in den Unterricht und das soziale Leben der Klasse einbringt.

Nicht nur wegen der beachtlichen Dauer Ihrer Langzeitstudie fühlen sich manche an die beobachtenden Dokumentarfilme Frederick Wisemans erinnert - zu Recht?
So ein Vergleich ehrt mich natürlich. Ich habe in der Vorbereitung des Films einige Wiseman-Filme wieder gesehen. Aber Wisemans Interesse ist stark auf sozial Strukturelles und Institutionelles gerichtet, meins zielt, auch in den Spielfilmen, eher auf den konkreten Menschen.

Meine Entscheidung, beobachtend zu drehen und auf Interviews zu verzichten, bedeutete logischerweise, dass man fast immer auf Unvorhersehbares reagieren musste. Im besten Fall wird man aber beschenkt. Das Beobachten hat selbstverständlich dramaturgische Auswirkungen und führt unausweichlich zu einer anderen Filmlänge.

Haben die eigentlichen Stars, die Klasse 6b, den Film inzwischen gesehen?
Auf Grund der Pandemie konnte ich den Protagonist*innen den Film erst vor Kurzem zeigen. Es war ein sehr schönes und emotionales Wiedersehen. Natürlich hatten einige auch Schwierigkeiten, Aspekte ihrer Persönlichkeiten oder ihres Aussehens, die sie selbst bei sich nur ungern wahrnehmen, jetzt sozusagen objektiviert auf der Leinwand zu sehen. Insgesamt wurde sehr viel gelacht, und soweit ich das beurteilen kann, waren sie sehr bewegt. Die Schüler*innen sind keine Kinder mehr, sondern junge Erwachsene. Aber sie haben nichts von ihrer offenen emotionalen Art verloren.

»Herr Bachmann und seine Klasse«: Deutschland 2021. Regie: Maria Speth, Drehbuch: Maria Speth, Reinhold Vorschneider. Termine: 17.6., 20.30 Uhr, Freiluftkino Museumsinsel;

18.6., 21.30 Uhr, Freiluftkino Friedrichshagen;

20.6., 21.45 Uhr, Freiluftkino Pompeji.

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