Wie will man in Erinnerung bleiben?
Wo geht’s zur Identität? Das fragt sich in »Der zweite Jakob« von Norbert Gstrein ein Schauspieler
Der Erzähler und Held in Norbert Gstreins neuem Roman »Der zweite Jakob« ist ein österreichischer Schauspieler. Mit seiner Familie, die durch den Skitourismus zu Wohlstand gekommen ist, hat er sich zerstritten und sein Heimatdorf in Tirol seit Jahren nicht mehr betreten. Weil er schon als Kind wie sein geistig behinderter Onkel Jakob immer mal wieder verschwand, nannte ihn die Familie den »zweiten Jakob«. Für seine internationale Karriere übernimmt er den Namen als Künstlervornamen; seinen Nachnamen erfährt der Leser nicht.
Bekannt wird Jakob in der Rolle eines Frauenmörders in einem US-amerikanischen Film. Danach bekommt er zu seinem Leidwesen nur noch ähnliche Rollen angeboten. Er geht deshalb nach ein paar Jahren in den USA wieder ans Theater nach Österreich zurück. Inzwischen hat er sich von seiner dritten Frau getrennt und mit seiner Tochter Luzie zusammengelebt. In dieser Zeit stimmt Jakob in einem »schwachen Moment« Gesprächen mit dem Journalisten Elmar Pflegerl zu, der eine Biografie über ihn schreiben soll.
Ziemlich schnell bereut Jakob seine Zusage. Nicht nur, weil er Angst hat, die Kontrolle über sein Bild in der Öffentlichkeit zu verlieren, sondern weil er auch keine Aufmerksamkeit »für das, worauf andere vielleicht stolz gewesen wären« möchte. Zunächst aber lässt er sich auf ein Treffen mit Pflegerl ein. Zur Sicherheit lässt er Luzie heimlich im Hintergrund Tonaufnahmen machen. Bis seine Tochter ihm eines Tages ebenfalls eine unbequeme Frage stellt: »Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?« Jakob beantwortet die Frage mehr oder weniger wahrheitsgemäß, was dazu führt, dass Luzie zu ihm auf Distanz geht.
Beides, Elmar Pflegerls »Datensammeln«, das »wie eine Aufzählung meiner Besitztümer [klang] und gerade in der faktischen Richtigkeit den Kern verfehlte« und die Krise in der Beziehung zu seiner Tochter motiviert Jakobs, selber seine Geschichte zu erzählen. Die Frage, wer er eigentlich ist, beginnt ihn umzutreiben. In immer neuen Ansätzen versucht er der Antwort durch die Rekapitulation seines Lebens nahe zu kommen. »Sag ihnen, wer du bist« lautet der erste Teil des Romans. Aber der Titel des zweiten Teils, »Du bist dieser hier«, deutet bereits daraufhin, dass es Jakob nicht gelingt.
In dem Bericht über seine Zeit in den USA wird zudem das komplexe Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit erzählerisch beleuchtet, das ihn als Schauspieler ja besonders betrifft. Bei den Dreharbeiten zu einem Melodram im Grenzermilieu in Texas kulminiert das Problematische an diesem Verhältnis. Nicht nur, weil er in der texanischen Wüste kaum mehr von den realen Grenzpolizisten zu unterscheiden ist, die dort über das Schicksal der Migranten aus Mexiko entscheiden, sondern vor allem, weil er sich in einer Extremsituation wie ein Schauspieler in einem Film verhält und einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begeht.
Wie wird er am Ende in Erinnerung bleiben?, fragt sich Jakob. Als der, »der sich herausgenommen hatte, eine Rolle abzulehnen, um die John Malkovich sich dann gerissen hatte, nur weil ich nicht einen schriftstellernden österreichischen Würger spielen wollte«? Oder, wie der Biograf Elmar Pflegerl seiner Meinung nach glaubt, als der Mann, der nicht über seine dritte Ehefrau reden will? Am Ende versucht Luzie ihrem Vater zu sagen, wer er ist. Vielleicht kommt sie der Wahrheit deshalb am nächsten, weil sie Jakob gut tut.
Die große Kunst dieses großartigen Romans besteht darin, dass Norbert Gstrein die Identitätsfrage in ihrer ganzen Komplexität ganz unprätentiös anhand der überraschend alltäglichen Probleme eines Schauspielers und Vaters erzählt. Es ist eine spannende Suche nach sich selbst, die gleichzeitig die Suche eines jeden sein könnte, wohl auch deshalb, weil die Frage nach dem »Wie sehen mich die anderen?« und die Frage nach dem Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit inzwischen für jeden wichtig werden kann, nicht nur für Schauspieler. In einer Welt, in der bereits Schüler mit dem negativen Bild zu kämpfen haben, das auf Facebook oder über Twitter von missgünstigen Mitschülern über sie verbreitet wird.
Norbert Gstrein: Der zweite Jakob. Hanser, 448 S., geb., 25 €.
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