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Dimensionen eines unfassbaren Verbrechens

Jörg Morré über die neue Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst, Historiografie und Erinnerungskultur

Zunächst eine vielleicht ungewöhnliche Frage: Ihr Haus, in dem 1945 der Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland einzog und in dem sich ab 1967 eine historische Gedenkstätte befand, firmierend als »Museum der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland«, wurde 1986 in »Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands im Großen Vaterländischen Krieg« umbenannt. War dies, ein Jahr nach der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der vom 8. Mai als Tag der Befreiung auch für die Deutschen sprach - also nicht mehr von Katastrophe oder Untergang -, ein absichtsvolles Signal? Ein politischer Nasenstupser?

Gute Frage, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. In den 80er Jahren passierte auf geschichtswissenschaftlicher und erinnerungspolitischer Ebene viel in beiden deutschen Staaten. Weizsäckers Rede im Bundestag 1985 markierte eine Zäsur im Gedenken in der Bundesrepublik. Erich Honecker wiederum engagierte sich persönlich stark für ein Museum deutscher Antifaschisten in Krasnogorsk bei Moskau, das im selben Jahr eröffnet wurde, zum 40. Jahrestag der Befreiung. Das Museum, das heute immer noch existiert, befand sich auf dem Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers, in dem am 12./13. Juli 1943 das Nationalkomitee »Freies Deutschland« gegründet wurde. 1986 bekam die bis dahin sogenannte Gedenkstätte in Karlshorst den etwas sperrigen Namen »Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands im Großen Vaterländischen Krieg«. Das war programmatisch gemeint. Alle Begriffe, die seitens der Sowjetunion und der DDR wichtig schienen, sind in die offizielle Bezeichnung des Hauses gepackt worden, das im Volksmund dann der Einfachheit halber Kapitulationsmuseum hieß.

Interview

Heute wird im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, im Volksmund: Kapitulationsmuseum, zum 80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion eine neue Ausstellung in Anwesenheit des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier eröffnet: »Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg«. Mit Dr. Jörg Morré, Jahrgang 1964, seit 2009 Direktor des Hauses, sprach Karlen Vesper.

Jetzt heißt es schlicht Deutsch-Russisches Museum. Was nicht den konkreten Inhalt verrät. Berlinbesucher könnten vermuten, dass hier Erzeugnisse des Kunstgewerbes ausgestellt sind. Gab es in den 90er Jahren nicht harte Auseinandersetzungen um den neuen Namen?

Harte Auseinandersetzungen gab es nicht, weil schon in Zeiten der Perestroika unter Michail Gorbatschow der damalige sowjetische Direktor des Hauses der Überzeugung war: »Wir müssen unseren Blick weiten.« Im Fokus sollten natürlich die Rote Armee und die Opfer der Völker der Sowjetunion stehen, zugleich aber sollte die Anti-Hitler-Koalition stärkere Beachtung finden. Das entsprach dem Zeitgeist.

Mit der deutschen Einheit im Oktober 1990 stand die Zukunft des Museums infrage. Na ja, richtig gefährdet war die nicht. Bereits in den Sommermonaten 1990 knüpfte der damalige sowjetische Direktor diverse Kontakte, vor allem zum Berliner Senat. Das heißt, alle, die es anging, hatten das Museum auf dem Schirm und waren sich einig, dass es bleiben sollte. Herr Lukin, der damalige Direktor, schlug ein Weltkriegsmuseum vor, das nun auch die Rolle der Westalliierten darstellen sollte. Er setzte sich nicht durch. Nahezu zeitgleich zum Deutsch-Russischen Museum entstand das Alliiertenmuseum in Zehlendorf. In Karlshorst sollte nun eine neue Ära anbrechen. Ein neuer Name musste her.

Bereits im Frühjahr 1991 konstituierte sich eine deutsch-sowjetische Expertenkommission, die alle Fragen gemeinsam diskutierte. Dabei befürchtete die sowjetische Seite, so meine Interpretation, dass irgendwie an der Ehre der Roten Armee gekratzt werden könnte. Aber im Grunde war das den Deutschen egal. Die damaligen Debatten drehten sich um die Rolle der Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion. Es war eben nicht die sogenannte saubere Wehrmacht, sondern die deutsche Armee war tief in die nationalsozialistischen Verbrechen des Vernichtungskrieges involviert. Es gab die Wehrmachtausstellung, die wie ein reinigendes Gewitter wirkte. Die deutsch-sowjetische Expertenkommission, vornehmlich Militärhistoriker, war sich einig, den historischen Ort zu erhalten, die Dauerausstellung unter dem Aspekt des Vernichtungskrieges komplett neu zu konzipieren und mit dem Museum insgesamt ein Zeichen der Versöhnung zu setzen.

1994 wurde das Museum mit dem Namen »Museum Berlin-Karlshorst e. V.« als Verein eingetragen. Irgendwie war das farblos, aber es war aus Sicht der Beteiligten die Bezeichnung, die alle Optionen offenhielt.

Die Titulierung Deutsch-Russisches Museum ist aber eigentlich auch anderweitig nicht ganz exakt, denn in der Roten Armee kämpften ebenso Belorussen, Ukrainer, Georgier und Kasachen ...

Richtig. Das wird in unserer Dauerausstellung auch abgebildet. Aber vereinsrechtlich war die Gründung 1994 tatsächlich eine Angelegenheit nur zwischen Deutschland und Russland. Denn nach dem Zerfall der Sowjetunion hatten Belarus und die Ukraine 1992 die gemeinsame Expertenkommission verlassen. 1997/98 wurden aber die Weltkriegsmuseen in Minsk und Kiew in den Verein aufgenommen.

Nun sind die deutsche Wahrnehmung und leider auch der Sprachgebrauch sehr lax. »Russisch« wird oft synonym zu »sowjetisch« verwendet. Deswegen war damals bei Gründung »deutsch-russisch« ebenso gut wie »deutsch-sowjetisch«. Es ist falsch, ich weiß. Wir kooperieren jedenfalls eng mit den Weltkriegsmuseen in Kiew und Minsk, nicht nur mit den russischen Museen. Und wir haben vor unserem Haus nicht umsonst vier Nationalflaggen hängen.

Dass im Deutsch-Russischen Museum nicht Kunstgewerbe gefeiert wird, ist freilich für Passanten schon von außen sichtbar - mit dem T-34 auf dem Sockel.

Und mit der »Katjuscha«, von den Deutschen »Stalinorgel« genannt. Sammeltechnisch sind das fast schon Raritäten, vor allem für die an Militärtechnik Interessierten. Gerade der T-34 auf seinem Sockel vor dem Museum ist ebenso ein gutes Beispiel sowjetischer Erinnerungskultur. In unseren Besucherführungen betonen wir mehr diesen Aspekt. Und - Obacht - ich rede von »sowjetisch«: Diese Erinnerungskultur ist der Ausgangspunkt aller heutigen, stark differierenden Erinnerungsformen in den postsowjetischen Nationalstaaten.

Auch in sowjetischen Ehrenmalen wie in Berlin-Tiergarten sowie anderswo stehen Panzer. Um diese tobte meiner Erinnerung nach in den 90er Jahren heftiger Streit.

Das waren moralisierende Aufreger. Der Senat hat die gestoppt: »Es gibt den Denkmalschutz, das bleibt.« Aus meiner Sicht war dies klug, man hat sich dadurch nicht in irgendwelche verbalen Gefechte verheddert. Denkmalstürmerei lehne ich generell ab.

Zudem kann man an solchen Zeugnissen wie Panzer oder Kanonen auf einem Sockel Erinnerungskultur historisch gut reflektieren. Man muss sie nur kontextualisieren. Das Gedenken im Treptower Park ist für einen Teil der in Berlin wohnenden Menschen lebendige Tradition. Jedes Jahr am 8. und 9. Mai ziehen sie zu Hunderten, eigentlich mehr zu Tausenden, nach Treptow. Meiner Ansicht nach steht dies einer weltoffenen Stadt wie Berlin gut zu Gesicht.

Gott sei Dank, dass in den 90er Jahren nicht Hand angelegt wurde an sowjetische Friedhöfe und Denkmäler. Das schützt uns nicht vor erneuten Diskussionen. Aber dem sehe ich gelassen entgegen. Letztlich sind die Gräber und Memorials alle durch das Kriegsgräbergesetz wie auch völkerrechtlich bindende Abkommen dauerhaft geschützt.

2018 hat die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion erklärt, dass die Handlungen der Wehrmacht in der Sowjetunion nicht pauschal als verbrecherisch zu beurteilen seien, sondern »einzelfallbezogen« bewertet werden müssten. Und für den 80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eine Gedenkstunde im Parlament explizit abgelehnt. Ihr Kommentar?

Die Geschichtsforschung der letzten 50 Jahre hat zu diesen Fragen sehr intensiv gearbeitet. In den 90er Jahren gab es die eben schon erwähnten heißen gesellschaftlichen Debatten, denen in den 2000er Jahren weitere wissenschaftliche Werke folgten. Pauschalurteile sind so gesehen nicht mehr notwendig. Alle, auch Politiker, können es ziemlich genau wissen.

Nun wirkt sich die Veränderung der politischen Großwetterlage, die neue Eiszeit im Verhältnis zu der Russischen Föderation, leider auch auf das öffentliche Erinnern und die Geschichtsforschung aus. Russische Forscher müssen unter ganz anderen Umständen arbeiten, als wir das in Deutschland können. Geschichte und Erinnerung werden wieder zu stark von aktuellen politischen Konstellationen und Zerwürfnissen bestimmt. Wenn selbst wir Historiker Mühe haben, unsere Wissenschaft davor zu bewahren, kann ich nachvollziehen, dass Politiker es noch schwerer haben, Geschichte und Politik zu trennen. Aber gut finde ich das nicht.

Wirken sich die verschlechterten Beziehungen zwischen dem Westen und Russland auf die Geschichtswissenschaft aus?

Die politischen Spannungen eher nicht. Es sind vielmehr die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft in der Russischen Föderation in den letzten 10 oder auch schon 15 Jahren, die unsere Kooperation erschweren.

Damit meinen Sie?

Zum Beispiel neu erlassene Gesetze gegen »Geschichtsfälschung« oder auch die Stigmatisierung gesellschaftlicher Initiativen und Vereinigungen, die mit westlichen Partnern arbeiten, als »Agentenorganisation«. Und offenbar gibt es eine Berichtspflicht für russische Wissenschaftler, die mit ausländischen Kollegen Kontakt haben. Wir merken das natürlich vor allem bei den langjährig gepflegten Beziehungen, wie wir sie als Museum haben.

Wir nehmen auf unsere russischen Kollegen Rücksicht, nehmen sie auch in Schutz, weil wir wissen, in welchen Nöten sie sich befinden. Ungeachtet all dieser Eintrübungen halte ich Formate wie die deutsch-russische Historikerkommission, der ich angehöre, nach wie vor für sehr wichtig. So etwas muss bleiben. Bedenken Sie, dort begegnen wir uns nach wie vor persönlich und nehmen uns Zeit, miteinander zu reden.

Hat Sie der umfängliche Artikel des russischen Präsidenten Wladimir Putin über den Zweiten Weltkrieg und dessen Vorgeschichte im vergangenen Jahr überrascht?

Inhaltlich nicht. Es war eine Bündelung dessen, was sowieso schon in der Luft lag und nun einen regierungsamtlichen Rahmen erhielt. Durch den Präsidenten bekam diese betonte russische Geschichtssicht normative Kraft. Putins Artikel funktioniert wie eine Art Handbuch, weshalb auch offizielle russische Stellen für dessen maximale Verbreitung gesorgt haben. Er ist zitierfähig, man kann und soll darauf rekurrieren. Gleichzeitig wird klargemacht: Wer diesen gesetzten Rahmen verlässt, kann unter Umständen Ärger bekommen.

Rechtzeitig vor dem 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion präsentieren Sie in Ihrem Haus eine neue Sonderausstellung: »Dimensionen eines Verbrechens«. Setzen Sie hier neue Akzente?

Ja und nein. Die Ausstellung bündelt alle Erkenntnisse zum Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangen. Da ist in den letzten 20 Jahren eine Menge hinzugekommen. Zum Beispiel können wir durch große Datenbanken Einzelschicksale viel besser rekonstruieren und darstellen. Entscheidungen über das Leben der gefangenen Rotarmisten können wir viel besser als früher in den Kontext von Kriegsverlauf, Vernichtungspolitik und deutscher Besatzungsverwaltung in der Sowjetunion stellen.

Nicht zuletzt möchte ich betonen, dass es in vielen osteuropäischen Staaten inzwischen Initiativen und kleine Gedenkstätten gibt, die die Geschichte ihres Lagers sehr genau ergründen. All das stellen wir dar. Dabei sind die großen Linien der Vernichtungspolitik für die Fachwelt sicherlich nicht neu. Aber das breite Publikum wird staunen, wie das System arbeitete, wer da genau verantwortlich war, dass am Ende über drei Millionen der sowjetischen Kriegsgefangenen starben; die meisten verhungerten. »Dimensionen eines Verbrechens« - der Titel der Ausstellung, erinnert an die sowjetischen Kriegsgefangenen als eine multiethnische Gruppe. Das waren nicht alles »Russen«. 90 Prozent von ihnen erlitten ihre Gefangenschaft außerhalb Deutschlands, im besetzten Polen, im Baltikum, in Belarus, Russland und der Ukraine. Das ist leider in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent.

Wir eröffnen unsere neue Ausstellung am 18. Juni pandemiebedingt Open Air, mit allen gebotenen Sicherheitsmaßnahmen. Wir haben auch eine Indoor-Version erstellt. Die Ausstellung haben wir gemeinsam mit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und dem Deutschen Historischen Institut Moskau erarbeitet.

Im Herbst geht die Ausstellung erst einmal nach Niedersachsen, dann nach Flossenbürg, wo im damaligen KZ 22 000 Kriegsgefangene inhaftiert waren. Geplant ist, die Ausstellung auch in Russland, Belarus und der Ukraine zu zeigen. Und ich würde mich freuen, wenn wir sie auch nach Polen oder ins Baltikum bringen könnten.

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