Auf der Suche nach der Turbandame
Antje Herden und Maja Bohn zaubern eine zeitgenössische Kästneriade aus dem Hut
Teetee ist verschwunden! Den Kindern der Klasse 4a fehlt die nette alte Dame, die zu ihrem Viertel einfach dazugehört. Genau wie ihre magisch wirkende Handtasche, aus der sie immer genau das zieht, was jemand gerade gebrauchen könnte. Da die Erwachsenen das Verschwinden der alten Dame nicht zu interessieren scheint, nehmen die Kinder des Viertels die Sache selbst in die Hand. In ihrer neu gegründeten Kommandozentrale in Herrn Mansurs Laden schmieden sie einen Plan. Mit detektivischem Gespür, Pistazien, Pfefferminztee und guten Freunden werden sie das Rätsel um Teetees Verschwinden schon knacken! Parole Teetee!
Antje Herden, 1971 in Magdeburg geboren, studierte etwas Chemie und viel Architektur. Seit 2004 schreibt sie Romane und Kurzgeschichten für Erwachsene und Reportagen für Stadtmagazine und seit 2010 hauptsächlich Kinderbücher. Antje Herden reist am liebsten durch die Welt. Ansonsten arbeitet und lebt sie mit ihren beiden Kindern in Darmstadt.
Maja Bohn, 1968 in Rostock geboren, absolvierte nach abgebrochener Tanzausbildung eine Buchhändlerlehre und arbeitete danach mehrere Jahre im Verlagswesen in Berlin. Mitte der 1990er Jahre begann sie ein Studium an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Seit dem Abschluss ist sie als freie Illustratorin und Autorin im Kinder- und Schulbuchbereich für das In- und Ausland tätig. Maja Bohn arbeitet und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
KAPITEL 1 stellt fast alle kurz vor
Teetee
Alle fanden Teetee merkwürdig: die Kinder, die Erwachsenen und die anderen ebenfalls. Sogar der dicke Hund vom alten Hofmann war außer Rand und Band und bellte die ganze Straße zusammen, wenn sie vorbeilief. (Der alte Hofmann und sein dicker Hund werden in dieser Geschichte allerdings nicht noch einmal auftreten.)
Teetee war lang und dünn wie eine Bohnenstange. Alt war sie auch. Vielleicht siebenundachtzig oder zweiundsechzig. Wahrscheinlich irgendetwas dazwischen. Sie hatte jedenfalls viele Falten. An Teetee vorbeizugehen fühlte sich ein bisschen ungemütlich an. Obwohl niemand sagen konnte, wieso. Daran war ganz sicher nicht die Ähnlichkeit mit einer Bohnenstange schuld. Die sind ja meist ziemlich harmlos. Auch alte Leute sind im Großen und Ganzen nichts Beunruhigendes.
Teetee roch fremd, aber nicht zu sehr und fast sogar gut. Nach Rauchwerk, Käsecrackern und Zuckerwatte. Das konnte es also auch nicht sein. Sie trug einen grauen Mantel. Im Winter war der zugeknöpft und eine karierte Wolldecke war fest drum herum geschlungen. Im Sommer wehten die offenen Mantelschöße im Wind um Teetee. Sie glänzten von innen violett. Aber auch ein Mantel, egal wie oft oder wie selten er angezogen wird, ist nicht besonders beängstigend.
Genauso wenig wie ein Badekappenturban aus lila Samt. Den trug Teetee auf dem Kopf. Ob sich darunter Haare verbargen und ob die kurz oder lang, weiß, lila oder schwarz waren, hatte noch niemals jemand gesehen.
Teetee lächelte immer. Entweder jemanden an oder vor sich hin. Die Kinder grinsten kurz zurück oder schauten auf den Boden, wenn sie ihr begegneten. Teetees Lächeln war sanft, aber seltsam. Als wüsste sie etwas, wovon niemand sonst auch nur eine Ahnung hatte. Vielleicht war es das.
Doch das Auffälligste an Teetees Erscheinung war ihre große, bauchige Tasche. Diese Tasche trug sie immer mit sich herum. Sie war aus schwarzem Leder und hatte es in sich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn egal was passierte, egal was gebraucht wurde, Teetee zog immer das genau Passende daraus hervor. Auch wenn kaum einer sofort erkannte, dass das Herausgezogene das genau Passende war. Was aber nur daran lag, dass die meisten Menschen eben nicht wissen, was sie gerade wirklich brauchen.
Unter den Kindern kursierte das Gerücht, Teetees Tasche sei magisch. Eine Zaubertasche, die Wünsche erfüllte. Noch nie gedachte, vernachlässigte, verloren gegangene Wünsche. Wegen der magischen Tasche und wegen ihres gewissen wissenden Lächelns fürchteten sich manche Kinder ein wenig vor Teetee. Man könnte sogar sagen, dass der ungemütliche Grusel, den sie bei Begegnungen mit Teetee empfanden, die Kinder des ganzen Viertels miteinander verband. So unterschiedlich sie sonst auch waren.
Lene
Lene ging in die vierte Klasse. Sie hatte ein hübsches Lächeln und dunkelbraune Locken, die ihr über die Schultern fielen. Meistens trug sie jedoch einen Zopf.
Morgens war sie fast immer zu spät. Weil sie die halbe Nacht lang mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke lag und las, fiel es ihr schwer, am Morgen aufzuwachen und einen ganz normalen Lenetag zu beginnen. Manchmal schlief sie in der Schule wieder ein. Nicht nur wegen großer Müdigkeit. Lene langweilte sich schnell. Auch das hatte etwas mit den vielen gelesenen Büchern zu tun. Erstens erlebte sie in denen unfassbar spannende Abenteuer. Zweitens lernte sie ganz nebenbei Dinge über die Welt, so dass sie über vieles sogar besser Bescheid wusste als ihre Lehrerinnen. Lene hatte jedoch erkannt, dass die es überhaupt nicht leiden konnten, wenn sie etwas besser wusste. Darum meldete sie sich lieber gar nicht mehr im Unterricht. Nicht einmal in Deutsch oder Sachkunde bei Frau Felgentreff, ihrer Klassenlehrerin. So kam es, dass Lenes Schulnoten nicht besonders gut waren. (Das war eigentlich ein Beweis dafür, dass Noten nicht viel mit Klugheit zu tun haben. Doch dieser Beweis interessiert leider nicht so viele.)
Weil sie schüchtern war, sprach Lene auch sonst nicht viel. Darum war sie oft allein. Und darum wirkte sie geheimnisvoll. Dass die anderen Kinder gerne mit ihr befreundet gewesen wären, ahnte sie nicht. Obwohl sie so mehr Zeit hatte, um Bücher zu lesen, vermisste Lene immer öfter einen Freund.
Cosmo und Stulle
Cosmo hatte die Idee mit den neuen Namen gehabt. Wie bei echten Gangstern oder Rappern. Die hießen ja auch nicht von Geburt an Cro oder Alligatoah, sondern eher Carlo oder Lukas.
»Ab heute heiße ich Cosmo«, hatte Cosmo eines Tages verkündet. »Und du?« Wanda, hätte Stulle beinahe gesagt, weil er kurz nicht bei der Sache gewesen war. Das hatte etwas mit seiner Lieblingsfernsehsendung zu tun gehabt. Aber zum Glück war ihm noch rechtzeitig eingefallen, dass Wanda wahrscheinlich ein Mädchenname ist. Um Zeit zu gewinnen, hatte er erst einmal in sein Pausenbrot gebissen. »Stulle«, hatte er dann mit vollem Mund genuschelt. (Dabei war ein kleines Wurststückchen herausgeflogen. Das war in Lenes Locken gelandet, weil die gerade vorüberging und Stulle ganz kurz in ihre Richtung geschaut hatte. Er hatte vor Schreck einen Schluckauf bekommen. Gesagt hatte er aber nichts. Nicht zu Lene.) »Alles klar«, hatte Cosmo erklärt und dabei auch Lene nachgeschaut. (Nicht wegen des Wurststückchens in ihren Locken. Von dem hatte er gar nichts mitbekommen. Sondern einfach nur so.)
Anschließend hatte er noch mal kurz nachdenken müssen. Beinahe hatte er nämlich das Gefühl gehabt, Stulle hätte sich den cooleren Spitznamen ausgesucht. Das wäre fatal gewesen. Denn Cosmo war der Stärkere. Dicker war er auch, viel dicker. Und größer. Cosmo war auch älter als Stulle, sogar älter als alle anderen in der Klasse. Das hatte zwei Gründe. Erst war er später in die Schule gekommen und dann hatte er auch noch eine Ehrenrunde drehen müssen.
Cosmos Faust saß ziemlich locker. Er ballte sie oft, streckte sie drohend nach oben oder nach vorne, je nachdem, welche Richtung ihm gerade sinnvoller erschien. Niemand wusste, ob Cosmo damit wirklich zuschlagen würde. Gesehen hatte das noch keiner. Denn da war ja noch Stulle. Der war klein und schmächtig und trug eine große Brille. Warum es Stulle jedes Mal schaffte, den aufbrausenden Cosmo zu beruhigen, wusste keiner. Die beiden kannten sich schon seit immer. Tatsache war aber, dass es Stulles Einwände und vernünftige Befürchtungen waren, die immer wieder Schlimmes verhinderten. Das dachten die anderen Kinder, das dachte auch Stulle.
In Wahrheit war Cosmo sehr erleichtert über Stulles Besonnenheit. Schon oft hatte er sich selbst über sein heißes Blut geärgert, besonders wenn es brodelnd überzukochen drohte. Wenn Stulle ihn jedoch aufhielt, konnte Cosmo auf die angekündigten Konsequenzen wie Kopfnüsse, Backpfeifen und linke Haken verzichten, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren. Denn eigentlich wollte er niemandem eine mit der Faust verpassen.
Sara und Saha
Sara hatte gesagt, dass sie gar nicht mehr in die Schule gehen müssten. »Ein guter Plan A ist alles. Dann braucht man auch keinen Plan B«, hatte sie Saha erklärt.
Den Spruch hatte sie von ihrem Onkel. Ihre Mutter verdrehte darüber die Augen, aber Sara fand ihn ziemlich gut. »Unser Plan A ist Instagram. Wir werden Influencer.« Saras Onkel war begeistert. Vielleicht weil er erst fünfzehn Jahre alt war. Vielleicht weil er selbst YouTuber werden wollte. Jedenfalls hatte er ihnen geholfen, heimlich einen Account bei Instagram zu eröffnen. Denn dafür waren sie eigentlich noch zu jung.
Saha hatte sich nicht getraut zu fragen, was ein Influencer ist. Manchmal fühlte sie sich neben Sara etwas unsicher. Das hatte auch mit ihrem Namen zu tun. Die meisten fanden den komisch. »Vielleicht haben deine Eltern ihn einfach nur falsch geschrieben? Vielleicht haben sie das R mit dem H verwechselt?«, hatte Sara überlegt.
Saha wusste das nicht. Sie konnte ihre Eltern auch nicht fragen, denn die waren Ärzte auf Reisen und halfen den ärmsten Kindern dieser Welt. Schon solange Saha denken konnte. Manchmal kam eine Postkarte, manchmal eine Mail, manchmal ein Anruf über Skype. In solchen Momenten war sie zu aufgeregt, um nach einem eventuell vertauschten R zu fragen.
Saha lebte bei ihrer Großmutter. Die wusste auch nichts darüber. »Ich fand den Namen ja erst ein bisschen komisch«, hatte Omi ihr verraten. »Aber nun ist es der schönste, den ich mir vorstellen kann.«
Saras und Sahas InstaAccount hieß PrincessSaha. PrincessSara hatte es zu Saras großem Bedauern schon gegeben. Inzwischen hatten sie zwölf Bilder mit Saras Smartphone geschossen und eingestellt. Dreimal die Katze, die immer auf dem schwarzen Autodach schlief. Ein toter Spatz, der noch fast lebendig aussah. (Das war kurz bevor die Katze aufgewacht war.) Eine Spatzenfeder mit rotem Kiel, nachdem die aufgewachte Katze den toten Spatz entdeckt hatte. Dreimal Nagellack auf Saras Nägeln, davon einmal mit Glitzer. Je ein Foto von ihren nicht mehr ganz neuen Sneakers. Und zweimal hatten sie heimlich Teetees Tasche fotografiert. (Leider waren beide Bilder unscharf.)
Obwohl sie insgesamt schon achtundzwanzig Likes und fünf Follower hatten (einer davon war Saras Onkel), saßen sie trotzdem noch nebeneinander in Frau Felgentreffs Unterricht. Schule war Plan B. »Den brauchen wir aber bald nicht mehr«, hatte Sara gesagt. Saha hatte dazu geschwiegen. Sie mochte Plan B. Sie würde es niemals laut sagen, aber Saha ging gerne in die Schule. Nicht nur, weil Bene vor ihr saß.
Bene
Bene war ein Held. Und er hasste es.
Natürlich war es toll, wenn man in jedem Unterrichtsfach eine Eins bekam. Wenn man die meisten Tore schoss und auch noch fechten konnte. Wenn trotzdem oder gerade darum alle mit einem befreundet sein wollten und die alten Damen auf der Straße einem Süßigkeiten zusteckten, weil sie einen so nett fanden. Klavier spielen konnte Bene auch. Das war das Einzige, was er wirklich gerne tat.
Dass er es hasste, in allem der Beste zu sein, lag an seinem Vater. Der tat nämlich so, als sei das allein sein Verdienst. »Du bist mein Sohn«, sagte er. Sonst nichts. Als wäre Bene einfach nur darum in allem gut, weil er eben der Sohn seines Vaters und nicht sein eigener Bene war. Sein Vater hatte ihn auch noch nie Bene genannt. Er sagte Benedict. Dabei war es doch Bene, der gut rechnen konnte, der stundenlang Partituren übte, der einen perfekten Pass schoss und die alten Damen auf der Straße höflich grüßte.
Gute Manieren hatte ihm seine Mutter beigebracht. Wohingegen sein Vater noch nie Fußball gespielt hatte. Weder als kleiner Junge noch zusammen mit Bene. Sein Vater sah überhaupt so aus, als hätte er noch nie im Leben irgendetwas gespielt. Er mochte es auch nicht besonders gern gemütlich und trug sogar zu Hause zum Abendbrot eine fest gebundene Krawatte. Abendbrot gab es in Benes Zuhause jeden Tag um neunzehn Uhr. Darauf bestand sein Vater, obwohl er selbst meist gar nicht dabei war, weil er noch in seiner Kanzlei arbeiten musste.
Eigentlich wollte Bene gerne einmal mit Karacho danebenschießen. Und sein Vater sollte ihn in den Arm nehmen und sagen, dass er ihn lieb hatte. Trotzdem. Oder gerade deswegen.
Antje Herden
Parole Teetee
Mit Illustrationen von Maja Bohn
Tulipan Verlag
208 Seiten, geb., 13,00 €
Für Kinder ab 9 Jahren
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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