- Kultur
- West-Berlin in den 1980ern
»Damals war man auch einsam, jedoch nicht allein«
Ein Gespräch mit Misha Schoeneberg. Er war der Lebensgefährte von Rio Reiser. Nun ist von ihm »Als wir das Wunder waren« erschienen, ein Roman über die 1980er Jahre
Dieses Jahr feiern Ton Steine Scherben ihren 50. Geburtstag nach. Sie stießen 1981 zur Musikkommune, machten Tournee-Management mit Claudia Roth, später die Lichtshow, auch schrieben Sie Lieder und Rio Reiser wurde Ihr Freund. Nun ist Ihr Buch über diese Zeit erschienen: »Als Wir das Wunder waren«.
Nein, das stimmt so nicht, das ist Verlagsmarketing. Ich habe kein Buch über Ton Steine Scherben oder gar ein Rio-Buch geschrieben. Ich habe ein Buch über die 80er Jahre geschrieben. Auch ist es ein Abgesang auf die untergegangene Insel Westberlin.
Haben Sie manchmal Sehnsucht nach früher?
Nein, obwohl ich die jungen Leute heute bedauere, weil die Zeit, in der ich aufwuchs, eine unglaublich gute Zeit war. Als Schüler in den 60ern und dann die 70er. Und immer dachte ich, wenn ich groß bin, dann geht es los.
Und ging es los?
Ja, davon erzählt das erste Kapitel. Doch es endet mit dem Tod meines Freundes Alex und mit dem Mord an John Lennon. Die ganze Ära der Hippieträume fand ihren Schlussakkord in diesem einen Schuss. Das war im Dezember 1980.
Sie nennen Ihr Buch ein »deutsches Rock ’n’ Roll Märchen«. War die Zeit so märchenhaft?
Nein, die 80er Jahre waren eine Umbruchszeit. Herauszuheben ist das Jahr 1981, die es erlebten, werden sich erinnern: Kein Jahr war wie dieses. Der Sommer ’81 war der Sommer des berstenden Füllhorns der nicht eingelösten Versprechen. Wir waren fundamentale Radikale, die nach Wahrhaftigkeit suchten. Westberlin war ein Nest voller Fantasten, Narren, Dichter, Rebellen und Propheten, die sich mit aller Kraft eine andere Welt erträumten. Diese Zeit der Freiheit, der Zärtlichkeit und der Hoffnung war wunderbar. Doch dann gab es eine ganz entscheidende Zäsur. Und die hieß Aids.
Dazu gab es viele Verschwörungstheorien, ähnlich heute wie zu Corona. Nach dem Motto: Das HIV-Virus kam aus einem Labor, um die Revolution zu verhindern.
Nun ja, eine hübsche Idee. Mit dem Wort »Verschwörungstheorien« kann ich als Historiker nichts anfangen: Es gibt Verschwörungen und es gibt Theorien. Eine sehr plausible Theorie hatte der Ostberliner Virologe Jakob Segal, er äußerte 1985 den konkreten Verdacht, das HIV-Virus hätte seinen Ursprung in einem Militär-Labor der USA, das an Viren zur Kriegsführung forschte. Russische Agenten sagten später, dass sie im Auftrag des KGB solche Theorien in die Welt gesetzt hätten, um den USA zu schaden. Das mag wohl sein, doch beweist es gar nichts.
Konkreter ist Ihre These im Buch, dass der Kapitalismus uns einsam macht, damit wir mehr konsumieren.
Das stammt von Günther, dem dunklen Poeten, der auch seine Rolle im Buch hat. Er sagte: »Ohne sexuelle Frustration funktioniert der Kapitalismus nicht. Wer glücklich ist, kauft nichts. Jedenfalls nichts, was er nicht braucht.« Damit stand er nicht allein, wir alle, jedenfalls »die Szene«, lasen Wilhelm Reich, C. G. Jung oder A. S. Neill.
Berlin ist heute die Hauptstadt der Singles. Ist das der Beweis für den Erfolg des Kapitalismus?
Klar, der Kapitalismus hat gesiegt, erst einmal. Damals war man auch einsam, jedoch nicht allein. Ein hübscher Spruch ging so: »Wer um Mitternacht alleine ist, der ist es schon wieder oder will es sein.« In der Szene gab es ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. In der Nacht, oder eben im Bett ist der Mensch nicht gern allein. Das musste damals niemand sein. Doch den Anspruch auf die Ausschließlichkeit in einer Liebesbeziehung hielten wir für einen Irrtum. Es galt: Es gibt keinen Anspruch an den Anderen, außer den, dass es keinen gibt. Pärchenbildung galt schon als Rücksturz in finsterste Zeiten. Otto Mühl, ein österreichischer Aktionskünstler, hat diese Idee ins Extreme geführt: In seiner AA Kommune gab es einen »Fickplan«. Darin wurde festgelegt, wann wer mit wem ins Bett steigt. Für mich geht diese im Grunde interessante Praxis gegen das eigentlich Menschliche. Ich sehe die Sehnsucht als eine göttliche Komödie: meist ist es doch so, dass die, die wir wollen, nicht uns wollen und umgekehrt. Doch wir können den Göttern ein Schnippchen schlagen, die Antwort liegt in dem wunderbaren Hippie-Song von Stephen Stills: »If you can’t be with the one you love, love the one you’re with.«
Sind Sie eifersüchtig?
Nein. Wenn man alleine schläft und jemand ist auf Tour und war dann mit jemand anderem im Bett, dann fragt man ihn, wenn er zurückkommt: »Und? War es schön?« Aber ich kenne Verlustangst. Das ist etwas Natürliches.
Und deshalb heißt Ihr Roman nach dem Ton Steine Scherben-Lied: »Lass uns ’n Wunder sein«?
»Nicht nur du und ich allein«, das ist die oft vergessene zweite Zeile, um die es eigentlich geht.
Die Hauptfigur Joshua hat zwei Geliebte an den Tod verloren. Haben Sie das mit dem Buch verarbeitet?
Ja, auch. Der Tod eines geliebten Menschen ist immer ein riesiger Schock. Es fühlt sich an, als wenn jede Zelle einzeln aus einem herausgerissen wird. Mit diesem Gefühl ging ich damals nach Goa, ich wollte unter Palmen sterben. Aber dann gab es eben diese Stimme, die sagte: »Du bist verurteilt, du musst leben. Geh zurück und finde den, der dir ähnlich ist.« Einem, dem ich begegnen durfte war Thomas Müller. Das Buch ist die Einlösung meines Versprechens an ihn. Er war mein erster Kontakt zu den Scherben. Er war damals der »Freund von Rio«, ein eher unglücklicher Titel, den ich später trug. Über meine Freundschaft mit Thomas habe ich mal gesagt: Nie war es Liebe, doch immer haben wir uns geliebt. Später sah ich ein, der Satz war falsch, auf eine sehr eigene, auf eine sehr reine Art verband uns etwas Großes. Thomas war ein Rock ’n’ Roll-Heiliger. Ein Huckleberry Finn. Und ich war Tom Sawyer, das Bürgerkind. Ich fand das Leben, wie er es leben musste, aufregend. Thomas sehnte sich aber nach Geborgenheit. Doch die hat er selten gefunden. Da spielt auch Rio eine Rolle, nicht unbedingt eine sehr glückliche.
Glauben Sie an die große Liebe?
Ja.
Das vorletzte Lied auf der letzten Scherben-Platte, veröffentlicht 1983, heißt »Ardistan«. Da fragt Rio: »Sind wir in Liebe?«
»Ardistan« ist der Titel eines Buchs von Karl May. Rio war bekennender Karl-May-Leser. Die Musik zu dem Lied - ein großartiger Sternenritt durch die Galaxien - hat Lanrue geschrieben. Der Text ist von Rio. Das Karl-May’sche Ardistan ist ein Synonym für das Paradies, halt ein Ort, an dem sich alle liebhaben.
Haben Sie Ardistan gefunden?
Nein, doch Ende 1984 fanden Rio und ich ein Land, wo alles vollkommen anders war als wir es bis dahin kannten. Das Land heißt Thailand. Den Tipp hatte ich von einem Tarot-Kartentrickser in Goa, der mir zurief: »Geh nach Siam! Das ist der einzige Flecken auf dieser Erde, der nicht von uns infiziert wurde.«
Was soll das heißen?
Siam ist der alte Name Thailands. Es ist eines von drei Ländern auf diesem Planeten, das nie kolonialisiert wurde. Dadurch konnten die Thai sich lange Zeit eine ganz eigene Kultur bewahren. Sie nennen sich selbst »das Land der Freien«. Und in gewisser Weise waren sie das. Damals. Für sie schien das Leben ein Fest der Sinne zu sein. Nicht Wollust, sondern sinnliche Freude. Der Buddhismus ist dabei auch sehr wesentlich. In dieser Religion gibt es keinen Gott und keine Gebote, sondern nur Angebote. Das Fleisch ist nicht der Feind und nicht des Teufels. Doch Achtung, das führt schnell zu Missverständnissen, wenn man die Welt durch die Augen eines Sat1-Reporters begafft. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen. Nach dem Mauerfall habe ich an der Humboldt-Uni Südostasienwissenschaften studiert. Heute bin ich einer der wenigen deutschen Historiker für die moderne Sozialgeschichte Thailands. Ich spreche, lese, schreibe und unterrichte Thai.
Sie sind auch autorisierter Übersetzer von Leonard Cohen. War der nicht Zenbuddhist?
Cohen ist auch eines dieser Missverständnisse. Zumindest in unseren Breiten. Ich bin sehr stolz, dass ich einen Beitrag zum besseren Verständnis Leonard Cohens auch für Deutschsprachige leisten durfte. Und dass alle Künstler, die ich fragte, an der Doppel-LP »Poem« (2015) teilgenommen haben, das bleibt ebenso großartig. Man höre nur mal Nina Hagens fantastische Interpretation von »Am dunklen Fluss«.
Finden Sie, dass Claudia Roth, die frühere Tour-Managerin der Scherben, sich in ihrer Art treu geblieben ist?
Ja.
Werden Sie Frau Baerbock wählen?
Nein.
Wie schauen Sie von heute auf die 80er?
Das erzählt das Buch. »Als wir das Wunder waren« ist kein Liebesfilm, neben Sex und Drogen ist das Thema das Zeitgeschehen als formende Kraft auf die Lebensläufe der in ihr individuelles »Hier und Jetzt« geworfenen Menschen. In diesem Sinne ist es auch ein politisches Buch. Das Lebensgefühl jener Tage war geprägt vom Nato-Doppelbeschluss, den Pershing II Raketen, der Atomkraft, der Kohl-Wende, dem Aufkommen von Aids, dem GAU von Tschernobyl, sowie dem sich ankündigen Zusammenbruch der DDR. Heute wissen wir, dass Tschernobyl die Initialzündung zu Perestroika und Glasnost war. Und das hat letztendlich zum Fall der Mauer geführt. Wir haben in Westberlin mit der Mauer gelebt, die war da. Bei uns war sie bunt, auf der anderen Seite war der Todesstreifen. Und es war ja so: Die Wahnsinnigen an der Macht drohten uns mit dem Armageddon auf dem Kurfürstendamm und erklärten uns für verrückt, weil wir im Streben nach einer bürgerlichen Karriere keinen Sinn mehr sahen. Wir aber lachten über die Leute, die sich mit Anfang 20 frisch im Beruf schon die Rente ausgerechnet hatten. Nun, wir haben überlebt und viele von uns sind mittlerweile im Rentenalter.
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