Von der mühseligen Suche nach der Wahrheit

Philippe Sands hat Lebensweg und Karriere eines NS-Verbrechers in Polen recherchiert

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Mein Großvater war ein Massenmörder.« Dies bekundete 70 Jahre nach dessen Tod die Enkelin auf ihrer Social-Media-Seite. In dem vorliegenden Buch des englischen Völkerrechtsexperten Philippe Sands wird die verbrecherische Karriere ebenjenes Mannes akribisch nachgezeichnet. Otto Wächter war ein hoher SS-Offizier in leitender Position in Krakau und Lemberg (heute Lwiw). Nach der Befreiung der deutsch-faschistischen Lager im Osten durch die Rote Armee wurde er von »SS-Reichsführer« Heinrich Himmler noch hochdekoriert und befördert sowie nach Italien versetzt, um den aus der Allianz mit Hitlerdeutschland ausgescherten Verbündeten wieder an die Kandare zu nehmen.

Wächter, Jahrgang 1901, hatte mit seiner sieben Jahre jüngeren Gattin Charlotte sechs Kinder, die ihren Eltern insgesamt 23 Enkelkinder schenkten, von denen nur ein einziges die Wahrheit über den mörderischen Ahnen nicht leugnete: Magdalena, die oben zitiertes Bekenntnis ins Internet setzte, das Sands nunmehr untermauert. Der Autor hatte bei den Recherchen zu seinem vorherigen, preisgekrönten Buch »Rückkehr nach Lemberg« den Sohn von Hans Frank, Generalgouverneur in Polen, kennengelernt und ihn auch über dessen eigene Recherchen zum Vater befragt. Hans Frank war der direkte Vorgesetzte Wächters. Er wurde beim Nürnberger Tribunal der alliierten Siegermächte zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. Niklas Frank, der Sohn, arrangierte für Sands den gewünschten Kontakt zum Sohn von Otto Wächter, mit dem sich der Autor auf die Suche nach dessen Spuren in Polen machte.

Pate des 1939 geborenen Horst Wächter war Arthur Seyß-Inquart, zunächst der Stellvertreter von Frank im »Generalgouvernement« und von 1940 bis 1945 »Reichskommissar« für die besetzten Niederlande. Auch er wurde in Nürnberg zum Tode verurteilt und 1946 exekutiert. Alle drei Naziverbrecher, Frank, Seyß-Inquart und Wächter, waren Juristen, Frank gar als »Reichsrechtsführer« höchster Jurist im »Dritten Reich«. Horst Wächter stellte dem britischen Autor die vollständige Korrespondenz seiner Eltern zur Verfügung. Dass beide glühende Nazis waren, leugnete der Sohn nicht. Aber er bestritt, dass sein Vater Verbrechen begangen hatte. Er sei »nur« Leiter der SS-Zivilverwaltung in Krakau und Lemberg gewesen; die Verbrechen hätte der militärische Zweig der SS verübt.

Otto Wächter war Österreicher, aber schon lange vor dem »Anschluss« seiner Heimat 1938 an Deutschland ein strammer Nazi. Zum Ende des Krieges bekam er es mit der Angst zu tun, fürchtete die gerechte Strafe der Siegermächte und auch der befreiten Polen. Er tauchte unter. Auf abenteuerlichen Wegen flüchtete er über die Alpen nach Rom, um von dort aus nach Argentinien zu gelangen - auf der sogenannten Rattenlinie, der berühmt-berüchtigten Fluchtroute alter Nazis nach Südamerika, die von hohen Geistlichen im Vatikan geebnet wurde. Auf diesem Wege waren unter anderem Erich Priebke, hoher SS-Offizier und Geiselmörder in Rom, Franz Stangl, Kommandant von Treblinka, Adolf Eichmann und der KZ-Arzt Josef Mengele entkommen. Otto Wächter schaffte es nicht, er starb 1949 in einem römischen Krankenhaus. (Vielleicht wurde auch etwas nachgeholfen?)

Sands Recherchen brachten Skandalöses zutage: Der US-Geheimdienst wusste vom ersten Tag des Aufenthalts Wächters in Rom an von dessen Anwesenheit. Der geistliche Cheforganisator der »Rattenlinie« war der aus Österreich stammende Bischof Alois Hudal im Vatikan; er stand auf der Gehaltsliste des US-amerikanischen Geheimdienstes CIC. Sein direkter »Vorgesetzter« war ein von den US-Amerikanern umgedrehter hoher SS-Offizier, der mit dem Leiter des US-Geheimdienstes in Italien in verwandtschaftlichen Beziehungen stand. Das alles liest sich wie ein Thriller und ist erschütternd von der ersten bis zur letzten Zeile.

Philippe Sands: Die Rattenlinie. Ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit. A d. Engl. v. Thomas Bertram. S. Fischer, 544 S., geb., 25 €.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.