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Den Blick auf alles richten
Ein extremes Spannungsverhältnis: die Nordirland-Fotobände von Gilles Peress
Whatever you say, say nothing« von Gilles Peress ist ein epochales, brillant produziertes Werk über den Nordirlandkonflikt. Es besteht aus zwei Fotobänden plus einer Art Betrachtungshilfe mit dem Titel »Annals of the north«. Das Werk umfasst insgesamt knapp 2 000 Seiten. Man ist dazu aufgerufen, 1 295 hervorragende S/W-Fotos »aktiv zu lesen«, wobei keine einzige Bildunterschrift hilft.
Dabei geht es dem Magnum-Fotografen Peress nicht um das einzelne Foto, sondern um »die Totalität in all ihren Simultaneitäten«. Die Absicht war es, so Chris Klatell, der für die »Annals« verantwortlich zeichnet, eine Art »immersive Erfahrung« zu schaffen, eine offene visuelle Sprache zu befördern, die es ermöglicht, sich mit der komplexen Geschichte Nordirlands auseinanderzusetzen. Peress, so Klatell weiter, sei während seiner ganzen Karriere gegen eine Form der Fotografie angegangen, bei der eine Bildunterschrift einem sagt, was man denken solle. »Whatever you say, say nothing« ist also kein Coffee-Table-Bildband, den man aus Gründen der Erbauung mal eben bei einem Gläschen Aperol schnell durchblättert.
Dieser Text stammt aus unser Wochenendausgabe. nd.Die Woche nimmt Geschehnisse in Politik und Gesellschaft hintergründig unter die Lupe. Politische und wirtschaftliche Analysen, Interviews, Reportagen und Features, immer ab Samstag am Kiosk oder gleich mit einem Wochenendabo linken Journalismus unterstützen.
»Das Foto«, so der Künstler Gerhard Richter in seinen Notizen der Jahre 1964/65, »hat eine eigene Art von Abstraktion, die gar nicht so leicht zu durchschauen ist.« Objektivität und Neutralität der Kamera sind so trügerisch wie das fotografische Terrain von ›Ehrlichkeit‹, ›Wahrheit‹ und ›Authentizität‹. Einfach ist die von Peress gestellte Aufgabe nicht, aber es ist auch kein leichtes Unterfangen, mittels der vielen über die euphemistisch »Troubles« genannten Ereignissen erschienenen Schriften zu einem profunden Verständnis der Vorgänge zwischen Belfast und Derry zu gelangen, die auch nach dem Ende der »Troubles« durch die binäre Kodierung des den Alltag und die Wahrnehmung bestimmenden »Sectarianism« gekennzeichnet sind. Dieses extreme Spannungsverhältnis wurde aufgrund der spezifischen Kolonialgeschichte Irlands wirksam.
In den »Annals« lesen wir: »Fotos von Nordirland, Fotos vom Norden Irlands, die auf eine nützliche Weise die Struktur und Natur des Konfliktes explizieren, müssen Fotos sein, welche die Ambivalenz und die inneren Widersprüche im Kern des Konfliktes einfangen sowie die dialektische Spannung zwischen Alltagsleben und der Omnipräsenz eines fortwährenden gewaltsamen Konfliktes, der kein Zeichen auf ein Ende bot, der zu Lebzeiten der Beteiligten unlösbar zu sein schien und daher keine Möglichkeit eines ›Danach‹ bot.«
Gilles Peress war mit seinen Kameras vor Ort, als sich am 30. Januar 1972 in Derry 20 000 Bürgerrechtler am Ende einer Demonstration gegen die Internierung ohne Anklage zur Abschlusskundgebung in Richtung Free Derry Corner drängten und Soldaten des britischen 1st Battalion Parachute Regiment gezielt und kaltblütig 108 Schüsse auf die unbewaffneten Demonstranten abfeuerten, selbst noch auf Leute zielten, die Verwundeten zu Hilfe eilen wollten. Als sich die Soldaten zwanzig Minuten später wieder zurückzogen, waren 13 Demonstranten tot, die Hälfte davon Jugendliche; fünfzehn weitere wurden schwer verletzt, von denen einer später seinen Verletzungen erlag. Der Kommandierende der britischen Landstreitkräfte, General Robert Ford, hatte in einem Memorandum empfohlen, auf die »ring leaders« der »Derry Young Hooligans« zu schießen.
Peress hat seine Fotobände in 22 »semi-fiktionale Tage« gegliedert, unter der Überschrift ›Days of Struggle‹ finden sich seine verstörenden Fotos vom Blutsonntag, die damals um die Welt gingen. Dieser Blutsonntag von Derry markierte das Ende der Strategie der gewaltfreien direkten Aktion und des zivilen Ungehorsams, wie sie die Bürgerrechtsbewegung verfolgt hatte. Das Vorgehen der Fallschirmjäger bewirkte die totale Militarisierung des Konfliktes. In den »Annals« findet sich dazu die Notiz: »Tage, an denen die IRA mehr Freiwillige rekrutiert als sie braucht.« Peress wurde später zweimal von einem Ausschuss zur Untersuchung der Fallschirmjägermorde in den Zeugenstand gerufen. Er hatte Fotos von der Demonstration und von den Erschossenen gemacht, deren Beweiskraft die offiziellen britischen Ausschüsse allerdings leugneten.
»A Day to Remember« ist dem Aufmarsch des Oranierordens gewidmet, dessen Mitglieder jedes Jahr am 12. Juli den Sieg von Wilhelm III. von Oranien über Jakob II. in der Schlacht von 1690 feiern. Der Oranierorden wurde 1795 als exklusiver, streng anti-katholischer, Geheimbund gegründet. Er dient als klassenübergreifende, organisatorische und ideologische Klammer hinter den Kulissen der protestantisch-unionistischen Parteien und wacht über die Wahrung als originär protestantisch angesehener Interessen. Die in den Bildern von Peress zu sehenden anachronistischen Märsche und Rituale der Oranier werden in einem zukünftigen, auf einer neuen Gemeinschaft der Menschen begründeten Irland in dem Maße gewahrt bleiben können, in dem die Oranier sich ihres Überlegenheitsgebarens entledigen.
Wir sehen Fotos von der Kampagne für die hungerstreikenden irisch-republikanischen Gefangenen in den H-Blocks des Lagers Long Kesh von 1981, die für ihre Anerkennung als politische Gefangene kämpften, von Englands Eiserner Lady Thatcher aber nur zu hören bekamen: »A crime is a crime is a crime.« Peress war dabei, als tote Gefangene beerdigt wurden. Er widmet sich, so lesen wir in den »Annals«, »den Ritualen von Taigs [Katholiken] und Prods [Protestanten] in einem Krieg, der durch das zynische Konzept eines ›akzeptablen Gewaltlevels‹ rationalisiert wird.« Er fotografierte auf den Straßen, bei Riots, in Pubs und Wohnungen, er zeigt Graffiti, die Aufschluss darüber geben, ob sie in einem protestantisch-unionistischen oder katholisch-republikanischen Wohnviertel entstanden sind.
Wir sehen den militanten presbyterianischen Pfaffen Ian Paisley mit einer Dose Diet Coke und den einstigen Sinn-Féin-Präsidenten Gerry Adams auf einer Hüpfburg. Peress hat seinen Blick auf nahezu alles gerichtet. Ausgeblendet bleibt nur die Welt der Arbeit. Wir sehen keine Fotos von Arbeitern auf der Belfaster Werft Harland & Wolff, keine Näherinnen in einem der verbliebenen Textilbetriebe, keine Apfelpflücker auf den Apfelhainen von Armagh, keine Farmer auf den Feldern von Antrim.
Wie ein Geist spukt Denis Donaldson durch die Peress-Bände. Der stets freundliche Repräsentant von Sinn Féin, dem einstigen politischen Arm der IRA, war in den 1970er und 1980er Jahren für die Betreuung ausländischer Gäste der Belfaster Republikaner zuständig, unter anderem eben auch für Gilles Peress, den schließlich eine Freundschaft mit Donaldson verband. Der gestand Ende 2005, dass er seit Mitte der 1980er Jahre dem britischen Geheimdienst MI5 dienlich gewesen war. Im April 2006 wurde er in einem Cottage in der Grafschaft Donegal erschossen aufgefunden. Wer die Täter waren, blieb ungeklärt.
Der Frage des Verrats dieses »Anti-Helden« wird in einem Text in den »Annals« nachgegangen. In einer Situation, in der jede(r) jederzeit Verrat begehen konnte, so heißt es dort, war es mehr als ratsam, das Motto »Whatever you say, say nothing« zu beherzigen.
Die Betrachterinnen und Betrachter, so schreibt Peress am Ende der »Annals«, möchten sich bitte seine Fotos genau anschauen, sich danach einen Drink genehmigen und eine Runde ausgeben für reale und imaginierte Freunde und Feinde in Nordirland.
Gilles Peress, Whatever You Say, Say Nothing. Steidl Verlag. 3 Bände, 1295 Abbildungen, 1960 S., geb., 425 €.
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