Das Geschäft der Rache

Blinder Kampf: Heinrich von Kleists »Michael Kohlhaas« an der Berliner Schaubühne

»An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des 16. Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.« Mit diesem berühmt gewordenen Satz ließ Heinrich von Kleist seine Novelle, 1808 verfasst, beginnen. Am vergangenen Donnerstag feierte Michael Kohlhaas in einer Theaterfassung des Regieduos Annabel Arden und Simon McBurney, bekannt als Mitglieder der britischen Theatergruppe Complicité, an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz Premiere .

Dieser erste Satz gibt bereits einige Antworten und wirft noch gewichtigere Fragen auf. Michael Kohlhaas, das war ein handeltreibender Kleinbürger, ein Lehrersohn. War er auch ein entsetzlicher Mensch? Sicher, seines Fanatismus und seiner Maßlosigkeit wegen. Was aber bedeutet Rechtschaffenheit in diesem Fall? Ist Kohlhaas ein emphatischer Kämpfer für Gerechtigkeit? Ein naiver Rechtsgläubiger vielmehr, unversehens übermannt von der gesellschaftlichen Realität? Oder ist das Kohlhaas’sche Pochen auf Gerechtigkeit nicht vielleicht vor allem das Bestehen auf das einem selbst zustehende Recht und damit letztlich ein gewöhnlicher Egoismus?

Nachdem Michael Kohlhaas beim Grenzübertritt für einen Geschäftsabschluss von einem Junker betrogen wird und seine zwei Pferde, die er als Pfand zurückzulassen gezwungen ist, bis zur Wertlosigkeit hungern müssen und dazu sein Knecht noch verprügelt wird, fasst der Titelheld den Entschluss, für die Durchsetzung des Rechts einzustehen. Seine Eingaben bei den Machthabern bleiben - unter anderem der Vetternwirtschaft wegen - ungehört. Seine Frau findet bei dem Versuch, ihn zu unterstützen, den Tod. Kohlhaas’ Forderung nach Gerechtigkeit schlägt um in rohe Gewalt. Er widmet sich, wie es bei Kleist heißt, dem »Geschäft der Rache«. Er schart ein Heer um sich, legt Brände, führt einen Disput mit dem von ihm verehrten Martin Luther und gewinnt dessen Unterstützung. Schließlich weiß er sich staatlicher Überwachung ausgesetzt, versucht zu fliehen und unterliegt am Ende einem Todesurteil.

Was aber stellen Annabel Arden und Simon McBurney mit diesem Stoff an? Wie bereits in der Bühnenbearbeitung von Stefan Zweigs Roman »Ungeduld des Herzens« durch Letzteren an der Schaubühne im Jahr 2015 erfährt der Prosatext keine hinreichende Theatralisierung, sondern wird als erzählendes Live-Hörspiel inszeniert, das Stück für Stück die Handlung wiedergibt. Durchgehend wird der Text akustisch unterfüttert (Sounddesign: Benjamin Grant). Und um keine falschen Erwartungen zu wecken, wird den Zuschauern beim Einlass in den Saal schon verdeutlicht, worauf sie sich einzustellen haben: Auf der mit Mosaikfliesen besetzten Bühne (Magda Willi) stehen sechs Notenständer und zwei Schreibtische. Hier soll heute ein Text durchgearbeitet, das heißt: brav aufgesagt, werden. Und so wechseln die Satzteile zwischen den sechs Schauspielern hin und her. Dialoge und erzählende Stellen gehen ineinander über. Auch die Figuren werden aufgeteilt auf die fünf Mimen um Renato Schuch, der den Kohlhaas gibt. Peinlich wird es allerdings immer dann, wenn die Darsteller auch noch verpflichtet werden, Tiergeräusche zu imitieren. Pferdegetrappel inklusive.

In den gelungeneren Passagen wird die Kleist’sche Fabel temporeich rübergebracht. Zusammengezurrt auf weniger als zwei Stunden Spielzeit werden die durchaus verworrenen Beziehungen deutlich. Schnell erschließen sich dem Publikum all die Vorgänge. Und gerade darin dürfte eine der Schwachstellen dieser Inszenierung bestehen. Sie ist zu einfach. Wenigstens ein kleines Geheimnis darf man doch von der Kunst erwarten.

Wagemutig ist hier nichts. Und von einer Haltung zu dem Text, einer Überführung des historischen Stoffs ins Hier und Jetzt fehlen jede Spur. Dabei müsste man in der Gegenwart nicht lange suchen nach Menschen, die sich um ihr Recht gebracht sehen und die in ihrem Kampf dagegen blind zu sein scheinen. »Michael Kohlhaas« ist eine Novelle gegen die Willkürherrschaft. Ihr Wert liegt aber darin, dass man aus ihr auch - ob mit oder entgegen die Intention ihres Autors sei dahingestellt - ein Lehrstück über Selbstjustiz und über außer Kontrolle geratende Gewalt herauslesen kann. Dieser Spur nicht nachzugehen ist zumindest ein inszenatorisches Versäumnis.

Der Autor dieses Werks ist eine politisch zutiefst fragwürdige Figur. Heinrich von Kleist war ohne Frage nationalistisch und reaktionär. Sein »Michael Kohlhaas« ist auch als ein literarischer Widerstand gegen Frankreich und vor allem gegen Napoleon zu verstehen, mit dem er einen Neoabsolutismus aufkommen sah. Kleist hielt sich selbst für aufgeklärt, und ihm zugewandte Exegeten sehen in seiner Novelle auch ein aufgeklärtes Stück Literatur, das für die Rechtsstaatlichkeit Partei ergreift. Dass aber gerade die Selbstjustiz zur Durchsetzung des Rechts oder auch nur des persönlichen Gerechtigkeitsempfindens das Gegenteil davon bedeutet, nämlich die Rückkehr zu voraufgeklärten gesellschaftlichen Zuständen und alles andere als Rechtsstaatlichkeit, sollte einleuchten. Der Widerstand gegen das Unrecht mag richtig, Weg und Ziel aber dennoch falsch sein.

Wo die Schauspieler in der Aufführung aus dem Hörspielschema ausbrechen, wird es zumeist nicht besser. Ist beispielsweise im Text von Martin Luther die Rede, so nehmen die Darsteller je ein Bild des Reformators zur Hand und halten es sichtbar dem Publikum hin, das zusätzlich eine Projektion des Erwähnten an der Rückwand der Bühne zu sehen bekommt. Ist von abgemagerten Pferden die Rede, werden Bilder geschundener Tiere gezeigt. Braucht es etwa diese Art von Illustrationstheater, um wenigstens etwas Lebendigkeit behaupten zu können? Auf Erkenntnisgewinn durch Kunst scheint es nicht anzukommen, sondern eher um pädagogische Vermittlungsarbeit. Die Kostüme (Moritz Junge) verstärken leider diese Tendenz: Wer korrupt ist, trägt hier Sonnenbrille; wer fürstlich herrscht, ist mit Pelz ausgestattet. Die Überdeutlichkeit in der Wahl der Mittel gibt der Inszenierung leider etwas Karikaturhaftes.

Als Kohlhaas’ Frau Lisbeth ihren Verletzungen erliegt, sinkt sie zu Boden. Die Live-Aufnahmen (Video: Luke Halls) von der Spielerin werden abermals projiziert, mit geschlossenen Augen liegt die kaum Bekleidete da und wird noch im Tod von ihrem Witwer mit einem Schwert, das er in ihre Hand legt, versorgt. Wo bloßer Kitsch nicht reicht, da müssen die szenischen Bilder wohl auch noch martialisch sein. Die Musik trägt ihr Übriges dazu bei.

Michael Kohlhaas, diese zutiefst ambivalente Figur, tritt dem Zuschauer auf der Bühne als fast messianischer Sympathieträger entgegen. Wer gegen das Unrecht kämpft, kann so falsch nicht liegen, scheint uns die Inszenierung zu sagen. Aber gerade darum, die Widersprüche ausfindig zu machen, sollte sich anspruchsvolles politisches Theater bemühen. Statt die Eindeutigkeit von Recht und Gerechtigkeit zu behaupten müsste die - kaum aufzulösende - Schwierigkeit kenntlich gemacht werden, dass das Recht nicht vom Himmel fällt. Die Zeit für simple Heldenfiguren ist vorüber.

Nächste Vorstellungen vom 6. bis 11. und vom 13. bis 18. Juli

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